31. Januar 2017

Geiseln

Geiseln gibt’s inzwischen nur mehr bei Flugzeugentführungen oder Bankraub? In Afrika? Mitnichten.

Als Inbegriff dieser Maßnahmen gelten die Erschießungen
von zehn Gefangenen im Münchner Luitpoldgymnasium am 30. April 1919.
Quelle: Historisches Lexikon Bayerns
Im Zweiten Weltkrieg erschossen die Deutschen Geiseln, um sich gegen Partisanen zu wehren. Das war damals durch das Kriegssrecht gedeckt – allerdings in engen Grenzen. Mehr z.B. hier und hier.

I resti dei militari del Polizeiregiment "Bozen" caduti
nell'attentato adagiati sul ciglio della strada (Wikipedia)
Attentat. Am 23. März 1944 um 15.50 Uhr tötet eine von zwölf Partisanen unter der Leitung von Giorgio Amendola versteckte Bombe und eine präparierte Mörsergranate im deutsch besetzten Rom in der Via Rasella dreiunddreißig deutsche Soldaten vom Polizeiregiment Bozen und zwei italienische Passanten. Weitere fünundfünfzig Soldaten und elf Zivilisten werden verwundet – wie die italienische Wikipedia hier ausführlich berichtet, die deutsche kurz hier. Britische und italienische Militärgerichte verurteilten das Attentat; italienische Straf- und Zivilgerichte stuften es später als legitimen Kriegsakt ein.  
Eingang zu den Adreatinischen Höhlen
Geiselerschießung. Daraufhin wurden 335 Italiener – zehn für jeden toten Soldaten – in den Adreatinischen Höhlen erschossen. Dieses Massaker ist vielfach beschrieben. 
   Das Polizeiregiment Bozen sollte an den Erschießungen teilnehmen, weigerte sich aber, wie die italienische Wikipedia berichtet und einen der Südiroler zitiert: « Entrò un sottufficiale di cui non ricordo il nome che ci disse ancora una volta che avremmo avuto l’onore di vendicarci dei nostri camerati caduti partecipando alle esecuzioni dei detenuti soggetti alla rappresaglia. Uno di noi parlò per tutti: disse che eravamo cattolici e che mai ci saremmo prestati ad uccidere dei civili innocenti. Il sottufficiale, in un silenzio assoluto, gridò Feiglinge! (codardi), e se ne andò via furente». … »Er sagte, wir seien Katholiken und würden uns nie dazu hergeben, unschuldige Zivilisten zu töten«.

Die Nachkriegszeit mit ihren Aufständen im Ostblock und dem Vietnamkrieg überspringe ich, um gleich zum Heute zu kommen.

Heute wird der Unterschied zwischen uniformierten »Kombattanten« und kämpfenden oder friedlichen Zivilisten nicht mehr wahrgenommen. Es sind »Truppen« und »Aufständige und ihre Familien«, z.B. hier. Geschlagene Truppen kommen nicht in Kriegsgefangenenlager, sondern werden mit der Zivilbevölkerung in Nachbardörfer evakuiert, wie jüngst in Ost-Aleppo. Das mag friedfertig sein, führt aber dazu, dass tote Zivilisten zu bloßen »Kollateralschäden« verkommen. Kundus mit hundert toten Zivilisten ist ein gutes Beispiel dafür.
   Überhaupt sind Luftangriffe, besonders solche mit Drohnen, geeignet, Unschuldige in Mitleidenschaft zu ziehen – ohne einen sichtbaren Täter, der zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Wir töten und morden inzwischen skrupellos, Kinder, Kranke, Hochzeitsgesellschaften, alle, sogar mit Scharfschützen auf den Dächern. 
   Staaten wehren sich mit »Vergeltungsmaßnahmen«, z.B. in Palästina. Freilich gibt es auch subtilere Geiselnahmen, etwa Sanktionen, Sperren von Bankkonten, Einreiseverbote, alles ohne rechtliche Grundlagen, einfach kraft Macht, oft aus Ohnmacht. Zäune, das Mittelmeer, verquere Vorschriften in der EU zur Registrierung im Ankunftsland, hier die neueste Glosse dazu.
   Wenn’s drauf ankommt, sind wir dann alle Geiseln.

9.8.1945 Foto Charles Levy
Link hierher:
http://blogabissl.blogspot.com/2017/01/geiseln.html

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