26. November 2019

Denken und Meinen

Si vis veritatem, fuga opinionem

Obwohl ich spontan si vis veritas, fugi opinionem gesagt hätte, klingt das zwar besser, ist aber falsch.
   Ganz ähnlich verfälscht eine frühe Meinungsbildung, ein schnelles Meinen die Wahrheit des erst einmal schnell Beurteilten. Der Trend zum Meinen, zum Beurteilen, Abschätzen, ästhetisch und politisch korrekt Einordnen, vielleicht sogar polemisch Überspitzen, gut Sagen, klasse Ausdrücken verfälscht, brutal. Wir kennen das aus der Physik: Da beeinflusst jede Messung das Gemessene, ein Effekt, den es zu minimieren gilt.
   Seit ein paar Jahren – so zwanzig etwa – fällt mir auf, dass Meinung, meist moralische Meinung, im Kommen ist. Sie kommt viel schneller als das Wissen, schon gar das Verstehen, das Einfühlen in eine Zeit. Das ist Absicht. Nachrichten berichten möglichst bereits vor den Ereignissen darüber, etwa »Wie wird Trump über Zölle entscheiden?« bis zu Herumgemeine über Bayern München. Erstmal Abwarten, das ist unsere Sache nicht.
   Am ärgerlichsten wirkt sich »Meinen vor Denken« bei der historischen Betrachtung aus, etwa des Holocaust. Inzwischen werden alle, die damals lebten, zu Nazis. Dabei hätten sie doch alles verhindern können, etwa indem sie Hitler nicht gewählt hätten, ihm nicht zugejubelt hätten. Sonderbarerweise werden aber nicht allen Ostdeutschen die Schüsse an der Mauer vorgeworfen. Ich weiß, der Holocaust – der Name kam hier erst 1978 auf – war ein singuläres Ereignis, ein einmaliger Gipfel der Grausamkeit, mit nichts vergleichbar.
   Doch auch das ist schon ein Urteil, das eigentlich nichts zur Sache tut, wenn ich einmal den Holocaust eine Sache nennen darf, was Anstoß geben mag. Ich bedauere das und sollte gleich aufhören.

Link hierher http://j.mp/2XO9r9l
 =  https://blogabissl.blogspot.com/2019/11/denken-und-meinen.html
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Besucherzaehler
NZZ 26.6.2019
Bild aus dem Artikel. (Credits dort)
Interview mit einem Prager Historiker und Juden in Palästina, Yehuda Bauer, 93, es schließt damit:
»In Israel ist das Verständnis des Holocaust sehr begrenzt. Im Publikum haben sich Ansichten entwickelt, die völlig falsch sind. Viele Leute glauben zum Beispiel, Hitler habe den Holocaust schon seit dem Ersten Weltkrieg geplant, doch der Holocaust entwickelte sich: 1940 wussten die Deutschen noch nicht, dass sie die Juden ermorden werden. Es ist schrecklich schwer, all dies dem Publikum beizubringen.«
http://j.mp/2LiVZ9h
= https://www.nzz.ch/feuilleton/der-historiker-yehuda-bauer-schlimmer-nationalismus-blueht-ueberall-auf-der-welt-oftmals-ist-er-religioes-gepraegt-ld.1486369
   Siehe »Replik« vom 2.10.2019 int. http://j.mp/2n971UO
   Siehe auch Berliner Zeitung, ausführlicher, persönlicher:
https://www.berliner-zeitung.de/politik/historiker-yehuda-bauer--es-ist-nicht-wie-1933----aber-es-ist-gefaehrlich-31463672

Keine Kommentare: