Was aber sind »Latwergen«? Ich schreib’s gleich richtig mit t. Kein Wunder, dass das keiner mehr kennt. Heute nennt’s die Wikipedia Leckmittel, was bös klingt uns nicht gerade Eis am Stiel assoziiert. Arznei in Breiform steht bei Grimm, auch nicht leckerer. Die Wikipedia lässt neben »elect(u)arium« auch »Süßwaren« gelten, dankeschön!
Georg Britting (1981–1964) schrieb nach dem Krieg darumherum eine Kurzgeschichte, die namhafte deutsche Zeitungen brachten. Er hat sie auch selbst im Radio vorgelesen, 13 Minuten. Hier Details und neuerdings auch hier.
Die »ziemlich tolle Geschichte« (Britting) hat er aus einem Sammelband von Eberhard Buchner, und der hat sie wieder aus der Vossischen Zeitung von 1735, Nummer 63, hier alles schön nachzulesen.
Damals war der Latwergenhändler allerdings noch ein »Mithridatkrämer« gewesen, das wäre heute – mit Verlaub – eine Apotheke. Rezeptfreie Vitaminpillen. Ganz beliebt!
Ich bringe Ihnen hier die Geschichte; muss mal bei der Britting-Stiftung anfragen wegen des Urheberrechts. Lesen Sie also vom sprachgenialen Georg Britting die …
Komödiantengeschichte
Honfleur, am Hafenpanorama. Foto Bodoklecksel, Wikipedia |
In der kleinen Stadt Honfleur, in der Normandie, nahe der Seinemündung gelegen, und seiner Stockfische wegen bekannt, hat sich, ein Menschenalter vor dem Bastillesturm in Paris, der ein neues, vernünftiges Zeitalter heraufführte, so wenigstens sagt man, das Folgende ereignet, und jedem steht es frei es lächerlich zu finden oder fürchterlich. Aber es ist so geschehen, es ist urkundlich verbürgt, und so muss es auch unerschrocken erzählt und angehört werden, und wer da gern die Augen verschließt vor dem wüsten Gräuel des Lebens, wird leicht blind auch für sein Liebliches.
Eine Truppe von Schauspielern war in der Salzfischstadt eingetroffen. Ihr Anführer war ein ehemaliger Latwergenhändler, der über der rechten leeren Augenhöhle eine schwarze Binde trug, aber mit dem ihm verbliebenen linken Auge sah er scharf genug, und mehr als manchem lieb war, seine Leute wussten es. Im Saal des Wirtshauses brachten sie liederliche Schwänke und Possen zur Aufführung und hatten großen Zulauf aus dem gemeinen Volk. Auch gesetzte Bürger fanden sich ohne Scheu ein, die aber ihre Weiber zu Hause ließen, und junge Herren vom Adel, die mit ihren Degen ein vornehmes Geräusch machten, und in den Pausen Wein und Zuckerzeug und rosarote Briefchen den Frauenzimmern hinter die Bühne bringen ließen – sie wurden meist gnädig und gewährend angenommen.
Einmal verlangte ein Stück, das in einer feurigfrechen Eifersuchtsszene gipfelte, dass der Harlekin, ein bildhübsches Bürschchen von kaum zwanzig Jahren, ein bartloses Milchgesicht, von dem hitzigen Nebenbuhler durch einen Messerstich getötet werde. Der Darsteller des Nebenbuhlers, ein schon älterer Mensch mit dunkel glühenden Augen, mit der munteren Tochter des Latwergenhändlers unruhig verheiratet, machte das so gut und echt, daß der Harlekin gleich nach dem Fallen des Vorhangs starb – auf offener Bühne zu verscheiden hatte er vermieden mit letzter Kraft, in dem Pflichtbewusstsein, das Schauspieler so oft auszeichnet. Der gestochen hatte, zerraufte sich das schwarze Haar und warf sich, laut jammernd und sich anklagend, zu Boden, und verfluchte seine unglückliche Hand. Aber nicht alle glaubten ihm, dass es nur ein Versehen gewesen war, nur hütete sich jeder es auszusprechen. Auch die Polizei begnügte sich schnell mit der Meldung, ein Komödiant sei durch einen Berufsunfall ums Leben gekommen – das geschah des öfteren, Seiltänzer stürzten ab, Feuerfresser verbrannten sich, und solch unehrlicher Leute einer mehr einer weniger, was machte das schon aus?
So weit nun gut und schön, doch als der einäugige Latwergenhändler, ein Mann, der auf Sitte und Herkommen hielt, den zuständigen Pfarrer auf das höflichste bat, und dabei vernehmlich mit den Geldstücken im Hosensack klimperte, ein Begräbnis vorzubereiten für den Verunglückten, lehnte der geistliche Herr das mit vielen bedauernden Reden ab, auf seine oberhirtlichen Vorschriften hinweisend, die es ihm nicht erlaubten, Fahrende mit den kirchlichen Segnungen versehen auf einem geweihten Friedhof zu bestatten. Er seufzte, als er das sagte, vielleicht noch das Klimpern im Ohr, und der Latwergenhändler rückte an seiner schwarzen Binde und verbeugte sich und ging.
Nun hatte vor kurzem erst das fortschrittlich gesinnte Parlament in Paris eine Verordnung erlassen, derzufolge in Fällen dieser Art auch das weltliche Gericht ein Wort mitzusprechen habe, und der Latwergenhändler, gekränkt und rechthaberisch, strengte eine Klage gegen den Pfarrer an, des Inhalts, diesem sei aufgegeben, dem Erstochenen, der ein getaufter Christenmensch gewesen, ein ehrliches Grab nicht zu verweigern, auf dass man ihn nicht zu verscharren brauche wie eine räudige Katze.
Langsam und schwerfällig arbeiteten auch damals schon die Behörden, und bis eine Entscheidung fiel, das mochte eine geraume Weile dauern, und bis dahin war die Leiche der viel schneller als die Behörden arbeitenden Verwesung anheimgegeben. Ihr Einhalt zu gebieten, kam ein Mitglied der Truppe, ein der Hochschule entlaufener Tunichtgut, der Wundarzt hätte werden wollen, auf einen tollen Einfall, und es kann nicht anders sein, als daß es das Vorbild und die Luft der Salzfischstadt Honfleur waren, die diesen Gedanken in ihm weckten. Er konnte es ja rings mit Augen sehen, wie man die Fische durch Einsalzen vor dem vorzeitigen Verderben zu bewahren verstand, und warum, dachte er, sollte das nicht auch bei dem im Tode noch so anmutig anzuschauenden Jüngling gemacht werden können, damit man für den Tag der Beerdigung einen wohlerhaltenen Leib in Bereitschaft habe. Er erinnerte sich von der Schule her, daß die alten ägyptischen Ärzte schon Mittel anwandten, ihre Könige in gutem Zustand in die Grabkammern zu legen, und so ähnlich königlich sollte es dem Harlekin auch geschehen – das war sein Wille!
Die Kosten für das Salz zu sparen, sammelte der von seiner Aufgabe schon ganz Besessene von dem Salz, das von den Stockfischen fiel, wenn sie aus den Schiffen ausgeladen und in die Schuppen der Händler getragen wurden. Alle armen Leute Honfleurs versuchten so, sich billig das weiße Gewürz zu verschaffen, obwohl es natürlich verboten war, denn die Stockfischhändler ließen das Geringste nicht sich entgehen von dem Ihrigen, und nur auf diese Weise wird man reich. Der fürchterliche Mensch also begann zu tun, was er sich vorgenommen hatte, alte, fast vergessene Wissenschaft zu nützlicher Anwendung bringend, mit aller Hingabe, ja, mit einem einfältigen und frommen Stolz und recht als gutes Werk, wie er in seiner Verwirrung meinte. Kaum war er fertig geworden, kam ein Salzbedienter gelaufen, der von dem Diebstahl gehört hatte, mit einem Polizeibüttel kam er, und ließ den Salzdieb auf der Wache festsetzen – um den so königlich behandelten Toten kümmerte er sich nicht, das fiel nicht in sein Amtsbereich! Zwar kratzten jetzt die Schauspieler ihr Geld zusammen, eine Sicherheit für den Gefangenen zu stellen, und man gab ihm auch bald die Freiheit wieder, bis der Stadtrichter sein Urteil gefällt haben würde. Nun hatten die fahrenden Leute einen zweiten Prozeß auf dem Hals, und ihrem Oberhaupt, dem Latwergenhändler, gefiel das gar nicht, und er sah Unheil kommen mit seinem noch sehenden linken Auge.
Er rückte an seiner schwarzen Binde, wie immer, wenn es einen Entschluss zu fassen galt, und dann ordnete er an, zu tun, was oft schon in Bedrängnissen ihre Rettung in letzter Stunde gewesen war: sich heimlich, und bei Nacht und Nebel, und mit Sack und Pack davon zu machen, von den Füßen den Staub schüttelnd der ungastlichen und grausamen Stadt. Den Harlekin ließen sie zurück, und der Wirt mochte nur ruhig mit ihren unbezahlten Rechnungen ein Feuerchen im Ofen anzünden, sich eine Wurst drauf zu braten: er hatte genug an ihnen verdient durch die vornehmen Gäste, die sie in sein minderes Haus gelockt hatten. Der Herr sei ihm gnädig, sagten sie, und meinten den Wirt nicht, meinten den Harlekin, und schlugen das Kreuz über den toten Kameraden, und die Tochter des Latwergenhändlers weinte sogar.
Der Salzbediente, als er von der Flucht der Truppe hörte am andern Morgen, machte sich eilig zu dem Wirtshaus auf. Er sah den Toten, und weil er glaubte, der sei ein für ihn kostbares Pfand, und die Schauspieler würden vielleicht doch einen Boten schicken, es auszulösen, bemächtigte er sich des Dahingeschiedenen und schaffte ihn auf einem Karren in eins der Stockfischlager.
Nie wieder aber ließ sich einer der Truppe in Honfleur blicken, und nicht für lange konnte der Salzbediente den stummen Harlekin bei den stummen Stockfischen haben. In seiner Not versuchte er zu erreichen, was schon der wortgewaltige Latwergenhändler nicht erreicht hatte, den geistlichen Herrn nämlich dazu zu bewegen, dem Jüngling nun doch noch ein Begräbnis zu gewähren, auf Armenkosten natürlich, und in der billigsten Klasse. Aber der Gottesmann schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen, als er von dem Vorgefallenen hörte und beharrte jetzt erst recht auf seiner Weigerung, den Harlekin neben den Bürgern der Stadt zu betten.
Der Salzbediente, es ist zu verstehen, war voll Kummer und sah keinen Ausweg mehr aus dieser Verfahrenheit, und fest nun entschlossen, dem Trubel ein Ende zu machen, legte er in einer schwarzen Nacht den toten Schauspieler wieder auf den Handkarren und karrte ihn, und es ärgerte ihn, daß die ungeschmierten Räder so laut knarrten, zur Seine hinab, und warf ihn in das geduldige Wasser, das bei Honfleur ins Meer fließt. Und die Wellen des Flusses trugen den gesalzenen Leichnam in das weite, salzige Wasser.
Der unbestrafte Mörder, angenommen, es habe sich um einen überlegten Mord gehandelt, was niemand wissen konnte, nur er, ja, selbst er nicht mit Sicherheit, denn ihm waren vielleicht Spiel und Leben ein und dasselbe geworden in einer undurchdringlichen Sekunde – er nun also lebte wieder still und zufrieden mit der Tochter des Latwergenhändlers. Und wenn ihn des Nachts böse Träume peinigten und ihn weckten, und er dann schlaflos lag, und neben ihm atmete die Frau, und sie auch nur konnte wissen, ob sie mit dem Harlekin bloß getändelt hatte, oder ob es mehr gewesen war – so griff er nach dem Krug mit rotem Wein, den er nie vergaß abends ans Bett zu stellen, und der vermag viel.
Ob Sie jetzt auf der A1 an Britting denken, an den jungen Schauspieler aus der Geschichte? An Latwergen?
Oder am Honfleur, wohin es Jahre später Georg Brittings Witwe (†18.10.2011) und ihren Mann zog, der mir schreibt:
Meine Frau, Brittings Witwe, selbst eine
Kommödiantin, zog es einst in diese Stadt des schaurigen Geschehens, in der es
darüber hinaus den köstlichen Calvados gab (und gibt). Es war ein prächtiger
Sommerabend, als wir mit unserem VW-Campingbus den Hafen der Stadt im Abendrot
erreichten. Vor den vielen Lokalen am Hafenbecken standen Stühle und Tische, auf
denen bereits die Lampen brannten. Ihr Licht spiegelte sich im Wasser. Der Singsang der Stimmen von den vielen Gästen war zu hören. Die salzhaltige Luft
durchzog ein lieblicher Geruch von gebratenen Fischen, Langusten, Scampis und
all dem, was das nahe Meer zu bieten hatte. Das alles war mehr als einladend,
jedoch das hatten bereits andere genau so verspürt und vor uns die Plätze
eingeommen.
Da sah ich den freien Raum auf der Hafenmole, der auf
dem Foto gut zu erkennen ist. Just an diese Stelle fuhren wir mit unserem Bus – das ließ man uns damals noch –,
luden Tisch und Stühle aus und auch eine hübsche Lampe darüber, und waren damit
Mittelpunkt des abendlichen Geschehens.
Schon bald brutzelten die Früchte des Meeres in der
Pfanne, ein guter Rotwein funkelte schon im Glas, dann wurde serviert, und einige
Gäste winkten uns zu und applaudierten, was meiner Kommödiantin natürlich so
gefiel, dass sie sich nach Art der Schauspieler dankend verbeugte.
Wir hatten schon abgeräumt, da zauberte sie eine
Flasche mit Calvados hervor, der seine Wirkung bald spüren ließ. So selig
zurückgelehnt, den Abend mit diesem Ambiente geniessend, holte sie ein Buch
hervor und begann die Geschichte der Kommödianten vorzulesen, die sich hier in
dieser Stadt vor langer, langer Zeit ereignet hatte. Es kamen Zuhörer dazu, und
so musste sie die Geschichte zwei Mal lesen und dann ein drittes Mal, von einem
Gast spontan ins Französische übersetzt. Man brachte uns Wein, man stieß mit uns an, es
war ein kleines Fest.
Spät schafften wir es dann mit dem Auto bis zu einem Wäldchen, wo
wir so tief schliefen wie der eingesalzene Kommödiant, nur mit dem süssen Duft
vom Calvados versehen und selig dem anderen Tag entgegenatmend.
Achilles und Penthesilea, Metropolitan Museum of Art, New York. Terracotta hydria: kalpis (water jar), Greek, Attic, red-figure, ca. 500 BC. Attributed to the Berlin Painter |
Links
• Britting liest »das Windlicht« 1'12"
• Britting liest den »Mond« 1'35"
• Britting liest den »Hahn« 1'47"
• Britting liest »Herbstgefühl« 1'15"
• Thomas Huber liest »Was hat, Achill … « 1'23" (1938)
• Britting liest den »Brudermord im Altwasser« 6'42"
• Schülerfilm zum Altwasser 3'5"
• Lego-Film zum Altwasser 45"
Link hierher, zum Weitergeben:
http://blogabissl.blogspot.com/2017/03/latwergen-britting-ladbergen.html