12. September 2011











Wie Lissi Guntermann ihrem Onkel Theodor 
das Sterben leicht machte
Erzählung von W. Jörn

In der Friedenskapelle zu Lichtenheim war eine Sonntagsschule, zu der jeden Sonntag eine Anzahl Kinder von Eicheneck herunterkamen. Eicheneck war ein ganz kleiner Ort und bestand nur aus vier Bauernhäusern und einer Tagelöhnerhütte. Aber dieser kleine Ort lag schön an einer Anhöhe, nicht weit von einem Eichenwald, unter dessen knorrigen Bäumen die Kinder oft spielten.
XX Einer der Bauern, die in Eicheneck wohnten, hieß Guntermann und hatte eine einzige Tochter, die Lissi hieß. Sie war eigentlich Elisabeth getauft, aber man nannte sie Lissi, weil dieser Name kürzer war und den Eltern schöner klang als Elisabeth mit dem tiefen a darin.
Lichtenheim, wo die kleine Friedenskapelle am Ende des Dorfes stand, lag an der Innerste, einem Fluss, der aus den Harzbergen kommt.
XX Als Lissi Guntermann sechs Jahre alt geworden war, durfte sie mit den andern Kindern aus Eicheneck jeden Sonntag nach Lichtenheim in die Sonntagsschule gehen. Sie kam in die Gruppe einer Helferin, die den Herrn Jesus sehr lieb hatte und ihren Kindern am liebsten vom Heiland erzählte, wie er unsere Sünden auf sich genommen habe und am Kreuz für uns gestorben sei.
XX So kam es, dass die kleine Lissi auch den Herrn Jesus lieb gewann und viel von ihm wusste. Zu Hause erzählte sie freilich nicht viel davon, weil der Vater nicht viel sprach, und die Mutter immer beschäftigt war.
XX Lissi hatte nun einen Onkel, der in Hildesheim wohnte, wo ein Rosenstock steht, der schon tausend Jahre alt sein soll. Denkt nur, ihr Kinder! Wenn ihr einmal nach Hildesheim kommt, dann lasst ihn euch zeigen (auf dem Domfriedhof des Hildesheimer Mariendoms).
XX Onkel Theodor in Hildesheim war Geschäftsreisender und viel unterwegs. Als er wieder einmal in die Nähe Lichtenhelms kam, durch das eine Nebenlinie der Eisenbahn geht, wurde er sehr krank und fuhr nur noch nach Lichtenheim, von wo er sich in einem Wagen nach Eicheneck in das Haus seines Bruders fahren ließ. Er kam sehr, sehr krank in Eicheneck an, und Lissis Eltern machten ihm schnell ein Bett zurecht in der Kammer, die neben dem Stübchen lag, wo sich Lissi gewöhnlich aufhielt.
XX Onkel Theodor hatte Lissi immer sehr gern gehabt und fröhlich mit ihr gespielt, wenn er zu Besuch gekommen war, aber diesmal sah er sie gar nicht an, sondern lag in seinem Bett und klagte über große Schmerzen. Der Arzt kam und sagte nach der Untersuchung zu den Eltern, dass Onkel Theodor eine schwere Lungenentzündung habe.
XX Es kamen nun schwere Tage für die liebe kleine Lissi. Onkel Theodor war unverheiratet, und deshalb lag die Pflege des Kranken ganz in den Händen der Eltern, die gar nicht viel Zeit hatten für den Onkel bei ihrer vielen andern Arbeit. Lissi hörte den Onkel oft klagen in seinen Schmerzen, aber sie getraute sich nicht an sein Bett, zumal er auch manchmal so sonderbar redete.
XX Der Arzt kam öfters und machte jedesmal ein ernstes Gesicht, wenn er wegging.
XX Als nun eines Tages Lissi in ihrem Zimmer war und Onkel Theodor wieder so stöhnend klagte, ließ sie plötzlich ihre Spielsachen liegen und ging mit klopfendem Herzen in das Krankenzimmer. Da lag der liebe Onkel Theodor in seinem Bett und sah so müde und schmerzgequält aus. Lissi ging auf den Zehenspitzen dicht an den Kranken heran, stellte sich am Kopfende des Bettes auf, legte ihren Kopf an die fieberheiße Wange des Onkels und flüsterte ihm zu: »Onkel Theodor, du musst deine Sünden alle auf den Herrn Jesus, das Lamm Gottes, legen!«. Dann ging sie wieder leise, aber eilig aus dem Krankenzimmer fort und an ihr Spiel zurück.
XX Ja, Kinder, so hat wirklich dies liebe Kind zu seinem kranken Onkel gesprochen. Es hatte in der Sonntagsschule gelernt, was der Herr Jesus für die Menschen ist und dachte in ihrem kleinen Herzen, wenn sie es dem Onkel sagen würde, was sie wüsste, könnte es ihm vielleicht helfen in seinen Schmerzen.
XX Onkel Theodor aber war durch die Worte seiner kleinen Nichte in große Aufregung geraten. Er hatte sich bis jetzt noch gar keine Gedanken über Sünde oder Gott gemacht und nur immer mit seinen Körperschmerzen zu tun gehabt. Jetzt waren seine Gedanken mit einem Male in eine ganz andere Richtung gekommen.–
XX Ja, wenn er gar sterben müsste an dieser Krankheit! Er wusste wohl, wie gefährlich sie war. Dann musste er in die Ewigkeit, und Gott würde nach seinem vergangenen Leben fragen. Da kam noch ein ganz anderer Schmerz in seine Seele, als der, der in seinem kranken Körper wühlte. Sünde! Oh, er hatte so viele Sünden!
XX Lissi hörte ihren lieben Onkel jetzt noch heftiger stöhnen als vorher. Sie war ganz traurig und musste immer an den Heiland denken, ob der dem lieben Onkel nicht doch auch helfen könnte.
XX Der Kranke hatte eine schlimme Nacht. Die Angst seines Herzens wurde immer größer, wenn er an sein vergangenes Leben dachte und an die vielen begangenen Sünden. Aber wie hatte doch die flüsternde Kinderstimme gesagt? »Du musst deine Sünden alle auf den Herrn Jesus legen!«. Und nun kam ihm alles in die Erinnerung, was er früher gelernt hatte. Er sah den Herrn Jesus im Geiste auch für ihn am Kreuz sterben in großer Not. Dann war es ihm, als ob der Herr Jesus in wunderbarer Schönheit als der Auferstandene vor ihm stehe und ihn freundlich zu sich einlade. Da tat er, was Lissi ihm gesagt hatte, er sagte dem Herrn Jesus in bitterer Reue alle seine Sünden und legte sie ihm hin mit der heißen Bitte: »Oh, Herr Jesus, reinige mich und hilf mir!«
XX Da kam ein tiefer Friede in das Herz des Kranken, und als Lissi am andern Tag wieder in ihrem Zimmer war, hörte sie nicht mehr so lautes, wehes Stöhnen wie sonst. Sie ging jetzt noch einmal in das Krankenzimmer, als sie wusste, es ist weiter niemand da. Und wieder stellte sie sich auf die Zehenspitzen, legte ihre weiche Wange an den bleichen Kopf des Kranken und fragte leise: »Onkel Theodor, hast du getan, was ich dir gesagt habe?«
XX Da lächelte der Onkel ein klein wenig und sagte, obgleich das Sprechen ihm Mühe machte: »Ja, liebes Kind, und nun ist mir wohl!«
XX Es wurde immer schlimmer mit der Krankheit Onkel Theodors, und nach einigen Tagen standen Lissis Eltern am Bett des Sterbenden. Aber ehe Onkel Theodor heimging in den Himmel, bat er, man möchte ihm »sein Engelein«, wie er Lissi nannte, noch einmal ans Bett bringen. Und als Lissi nun bei ihm stand und den Onkel so traurig ansah, weil er so leiden musste, legte er ihr die Hand auf den Blondkopf und sagte mit abgerissenen Worten: »Gott segne dich, liebes Kind, und vergelte es dir, dass du mir den Weg zum Heiland und zum Frieden gezeigt hast!«
XX Dann ist er still eingeschlafen.
XX Lissi wusste gar nicht, dass sie etwas Besonderes getan hatte, aber ihre Eltern waren tief bewegt.
XX So hat Lissi Guntermann durch ein Bekenntnis zu ihrem Heiland ihrem Onkel das Sterben leicht gemacht.

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Autor dieser erbaulichen Geschichte ist mein seliger Großvater Wilhelm Jörn. Seine Lebensereinnerungen finden Sie auf www.Joern.De/Aehren.htm. Die Geschichte erschien 1927 zusammen mit »Hanne Bodenstein und ihr Bekenntnis« im Christlichen Verlagshaus Stuttgart, wo W. Jörn zahlrecihe Werke veröffentlicht hat. Seit 2011 ist das Heft wieder faksimiliert – also in Fraktur – und wie hier in Antiqua beim Christlichen Verlagsantiquariat Ingold erhältlich. Ich habe es sanft angepasst an die neue Rechtschreibung und gelegentlich auch auf den geänderten Stil. Die Umsetzung (das optische Lesen, OCR, optical character recognition) erfolgte dankenswerterweise vom Christlichen Verlagsantiquariat mit Tessdata. Der Zeichner der originalen Vignette ist mir nicht bekannt. September 2011, Fritz@Joern.De

Link zu diesem Eintrag: http://blogabissl.blogspot.com/2011/09/wie-lissi-guntermann-ihrem-onkel.html

Siehe auch »Hanne Bodenstein und ihr Bekenntnis«, ebenfalls von Wilhelm Jörn, http://blogabissl.blogspot.com/2011/09/hanne-bodenstein-und-ihr-bekenntnis-von.html
 

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