Hanne Bodenstein und ihr Bekenntnis
Erzählung von W. Jörn
Die liebe Hanne, von der ich zu erzählen habe, lebt nicht mehr in dieser Welt. Sie ist längst in ihre schöne ewige Heimat gegangen. Aber was ich von ihr erfahren habe, hat mich recht bewegt, und ich dachte, es möchte für Kinder und auch für große Leute gut sein, wenn sie Hanne Bodenstein kennen lernten. Darum will ich ihre Geschichte erzählen.
XX Wo der Weg nach der alten Kreisstadt Rumburg durch das Wellengelände führt, liegt an einer Biegung das ganz kleine Dörfchen Ödheim. Hier wuchs Hanne Bodenstein mit noch vier andern Geschwistern heran. Es war damals eine arme, harte Zeit in unserem Vaterlande. Hannes Mutter war früh Witwe geworden und führte mit ihren Kindern ein Leben der Not und Entbehrung. Sie wohnten in einer halbverfallenen alten Scheune und hatten als Bettzeug nichts als alte Lumpen, mit denen sie sich nachts zudeckten. Das war besonders im Winter recht hart, wenn der kalte Wind den feinen Schnee durch die schadhaften Dachziegel trieb. Die Mutter arbeitete schwer um das tägliche Brot bei den Bauern, und die Kinder suchten besonders im Sommer durch Beerensammeln im Wald etwas zu dem kargen Verdienst der Mutter hinzuzuverdienen. Hanne, als die älteste der Geschwister, hütete die Ziegen des Dorfes, wie Rebekka einst die Schafe ihres Vaters gehütet hatte.
XX Aber bei aller Armut war Frau Bodenstein mit ihren Kindern recht froh. Auf dem Gesicht der Witwe lag ein stiller Schein, als wenn jeder Tag bei ihr ein Sonntag sei und sie mit ihren Kindern immer Festtagsessen hätte, statt des harten Brotes, das oft ihre einzige Nahrung ausmachte. Um es gleich zu sagen: Hannes Mutter war reich an Glauben und Liebe zu Gott, ihrem Heilande. Und das machte ihr Leben so licht, wenn sie auch kein leichtes Dasein hatte unter den schweren Zeitumständen.
XX In ihrer Kindheit hatte Frau Bodenstein eine feine christliche Erziehung genossen und besonders viele schöne christliche Lieder und Abschnitte aus der Bibel gelernt. Und dieser edle Gedächtnisschatz war im Herzen der Jungfrau und späteren Mutter zu Geist und Leben geworden und gab ihrem Leben nun einen so köstlichen Inhalt, dass sie bei ihrer Armut viel glücklicher war, als mancher reiche Bauer des Dörfchens.
XX Weil die Kinder sahen, wie wahrhaft glücklich die Mutter war und wie sie es so gut mit ihnen meinte, nahmen sie auch gerne die Unterweisungen der Mutter an und lernten in der Schule und besonders zu Haus, was rechte Christenkinder lernen müssen. Und welche stille Macht ging von den schönen Liedern aus, die Hannes Mutter mit den Kindern sang! Dazu zeigte das Wort Gottes, das viel gelesen wurde, seine herzerneuernde Kraft. Dabei betete die Mutter viel für ihre Kinder.
XX Hanne hatte ihr junges Herz besonders weit aufgetan, um die Gottesliebe darin wirken zu lassen. Sie wandelte schon ganz auf dem Wege der Mutter. Treue Arbeit, Lieder zu Gottes Ehre und ein inniges Gebetsleben waren ihre Lust. Sie befolgte treulich das Gotteswort: »Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend!« Dabei hatte sie inniges Mitempfinden für andere, ohne viel an sich selbst zu denken. Als sie einmal in einer besonders stürmischen Nacht mit Mutter und Geschwistern auf dem ärmlichen Lager zu schlafen versuchte, bemerkte sie, wie die kleine Charlotte ihre Decke fester um sich wickelte. Der Wind heulte aber auch zu schauerlich um die alte Scheune und blies seinen kalten Atem durch die vielen schadhaften Stellen des Gemäuers.
XX Da dachte Hanne an eine alte Tür, die in dem weiten Raume an einer Wand lehnte. Die könnte helfen! Sie stand auf und schleppte die Tür an den gemeinsamen Lagerplatz, der sich an einer Wand hinzog, und stellte sie so gegen die Wand, dass sie den schneidenden Wind davon abhielt, diesen armen Schläfern allzusehr Kühlung zuzufächeln. Als Hanne sich wieder neben der Mutter niedergelegt hatte und sich und die Ihrigen durch die schützende Tür so geborgen fühlte, flüsterte sie der Mutter zu: »Mutter, was machen bloß die Kinder, die keine Tür haben?«
XX Eines Tages hatte sie ihre Herde Ziegen auf der Weide und saß im Schatten eines Baumes am Wegesrain. Sie hatte einen Strickstrumpf in der Hand, an dem die fleißigen Finger hantierten. Ganz in Andacht versunken, sang sie mit ihrer schönen hellen Stimme in den taufrischen Morgen hinaus den herrlichen Gesangbuchvers:
XX Wie bist du mir so sehr gewogen
XX Und wie verlangt dein Herz nach mir!
XX Durch Liebe sanft und stark gezogen,
XX Neigt sich mein Alles auch zu dir.
XX Du teure Liebe, gutes Wesen,
XX Du hast mich, ich hab dich erlesen!
Hanne hatte ganz das nahende Pferdegetrappel überhört. Ein Retter kam die Straße hergeritten, nach seinem Anzug zu urteilen, war es ein Kaufmann, der in Geschäften unterwegs war. Es gab damals noch nicht so viele Eisenbahnen. Darum musste das schnelle Ross helfen, die Menschen von einem Ort zum andern zu bringen.
XX »Heda, Mädel! Hör auf mit deinem Singen und sage mir, wie weit es noch bis Rumburg ist, und ob ich den Weg dahin nicht verfehle, wenn ich diese Straße weiterreite!«, rief der Reisende unserer Hanne zu, die ganz erschrocken aufgesprungen war.
XX Hanne legte ihren Strickstrumpf neben sich auf die Erde und schaute ehrfürchtig, wenn auch freimütig, zu dem fremden feinen Manne auf.
XX »Noch drei Stunden habt ihr, Herr, bis man in Rumburg ist. Der Weg geht immer hier am Bergrücken hin. Unser Dorf heißt Ödheim. Ihr kommt durch Hachhausen und Langdorf, dann könnt ihr von der Höhe schon den Turm der Kirche von Rumburg sehen«, gab Hanne Auskunft.
XX Herr Butzemann, so hieß der Kaufmann, sah mit Wohlgefallen auf das Kind, das so bescheiden und freundlich Antwort gab. Freilich trug Hanne nur ein einfaches Röckchen. Ihr Kopfschmuck waren zwei weizengelbe schwere Zöpfe, und Strümpfe strickte sie wahrscheinlich nur für andere, denn ihre braunen, nackten Füße, mit denen sie auf der weißen Landstraße stand, schienen noch nie Bekanntschaft mit Schuhen gemacht zu haben.
XX »Wie heißt du, Mädchen, und wie alt bist du?«, fragte Herr Butzemann, dem es besonders der helle, klare Blick Hannes angetan hatte. Dies Kind war so ganz anders als viele andere, die der Reisende mit ihren stumpfsinnigen Gesichtern auf seinen Wegen angetroffen hatte.
XX »Hanne Bodenstein heiße ich und bin zwölf Jahre alt«, sagte die junge Ziegenhirtin, indem sie sich nach ihrer Herde umschaute, ob da auch alles in Ordnung sei.
XX »Bis auf dein frommes Singen bist du ein wackeres Kind«, meinte der Reiter, griff in die Tasche und warf Hanne ein kleineres Geldstück zu. Dann sprengte er in gewaltigen Sätzen davon.
XX Hanne nahm langsam das Geldstück vom Boden auf. Was mochte der Fremde damit gemeint haben, wenn er sagte: »Bis auf dein frommes Singen«?
XX Aber es blieb ihr nicht lange Zeit zum Nachdenken. Als sie sich wieder mit ihrer Arbeit niedersetzen wollte, schaute sie noch einmal dem weitertrabenden Reiter nach. Da bemerkte sie auf der Straße einen schwarzen Gegenstand, der vorher nicht dort gelegen hatte. Hanne lief auf die Stelle zu und hob eine ziemlich dicke schwarzlederne Brieftasche auf, die der Kaufmann verloren haben musste.
XX Wie ein flinkes Reh lief die barfüßige Hanne dem Reiter nach, indem sie schreiend ihren Fund in die Höhe hielt. Diesmal achtete die Hirtin selbst nicht einmal auf ihre Ziegen, die sich ebenfalls in Galopp setzten, als sie ihre Hüterin so springen sahen.
XX Herr Anton Butzemann wurde bald aufmerksam auf die Jagd, die auf ihn gemacht wurde. Er sah sich um und fasste in demselben Augenblick, als er die Brieftasche in der Hand des Kindes erblickte, an seine Tasche. Mit einem scharfen Ruck hielt er sein Pferd an. Ganz weiß war er im Gesicht geworden, denn seine Tasche war leer, in der er eine Brieftasche, mit einem kleinen Vermögen darin, gehabt hatte.
XX »Herr, ist das ihre schwarze Tasche? Sie lag auf dem Wege, als ihr von mir fortgeritten wart«, sagte Hanne, die schnell bei dem Reiter war, der eben sein Pferd herumgeworfen hatte.
XX »Ja, Kind, das ist die meine!«, rief Butzemann herzklopfend und hielt schon wieder sein Eigentum in der Hand, das er jetzt sicher in der Tasche barg.
XX Dann fing er an, Hanne auszufragen nach ihren Verhältnissen zu Hause. Dabei wurde der Wunsch in seinem Herzen immer größer, dies Kind in seine Familie zu bekommen.
XX Endlich gab er dem Mädchen seinen Namen an und die Stadt, in der er wohnte, mit der Aufforderung, zu ihm zu kommen, er wolle für sie sorgen. Acht funkelnde Goldstücke ließ er noch in der Hand des Kindes mit dem Auftrage, das der Mutter zu bringen, und ritt dann gedankenvoll weiter.
XX Hanne war es wie einer Träumenden. Langsam ging sie zurück und brachte ihre Ziegen wieder zusammen. Sie freute sich, ihrer geliebten Mutter soviel Geld heimbringen zu können, aber es war dabei wie ein leiser Schmerz in ihrer Seele. Der Fremde hatte ihr gesagt, sie solle zu ihm kommen. Und Hanna Bodenstein ahnte, dass sie gehorsam sein müsse, aber ihr war bei allem so bange.
XX Als die erstaunte Mutter abends alles erfuhr, stiegen Lobgesänge und Dankgebete zu Gott auf. Dann wurden wirklich Mutter und Tochter eins, das Anerbieten des Herrn Butzemann anzunehmen.
XX So finden wir denn Hanne eines Tages vor der Tür des Kaufmannes in der fremden Stadt. Erfreut begrüßte sie der Hausherr und brachte sie sogleich zu seiner Gattin mit den Worten:
XX »Hier, Liebste, bringe ich dir wieder eine Tochter für unsere heimgegangene Amalie!«
XX Den Kaufmannsleuten war nämlich vor einigen Monaten ihr einziges Töchterchen gestorben. Und dies Töchterchen hatte kurz vor ihrem Tode zu der betrübten Mutter gesagt:
XX »Mutter, wenn ich bei dem Herrn Jesu im Himmel bin, will ich ihn bitten, dass er dir und dem Vater wieder eine fromme Tochter schicke. Aber bitte du den Vater, dass er auch fromm werde und den Herrn Jesus nicht so oft durch Fluchen und Spotten betrübe.«
XX Jetzt verstehen wir, warum Herr Butzemann damals gesagt hatte: »Bis auf dein frommes Singen.«
XX Aber wie froh war die Kaufmannsfrau, die den Herrn Jesus auch innig lieb hatte, für diese neue Tochter, die ihr auf solche Weise zugeführt wurde.
XX Hanne Bodenstein hatte sich durch ihr freundliches Wesen und ihren willigen Gehorsam bald das Vertrauen der Hausgenossen erworben, aber ihr frommer Sinn und ihr schöner Gesang waren dem Hausherrn zuwider. Doch duldete er um seiner Gattin willen die Dinge und blieb nach wie vor gleichgültig gegen Gott und sein Wort.
XX Aber da war eine weitläufige Verwandte in der Familie, Auguste Bannig, die als Haushälterin alles beherrschte, diese konnte das Singen und Beten des frommen Kindes auch nicht ausstehen.
XX »Ich schlage dich noch krumm und lahm!«, schrie sie eines Tages die erschrockene Hanne an, als diese wieder ein Lied vom Heiland vor sich hinsummte. Dabei hatte das Gesicht der Haushälterin einen so finsteren Ausdruck angenommen, dass Hanne schnell davongelaufen war.
XX Der gleichgültige Sinn des Pflegevaters und der Hass gegen alles Göttliche bei der Haushälterin presste der lieben Hanne oft bittere Tränen ab. Dabei litt sie sehr unter Heimweh nach ihrem stillen Ödheim, nach Mutter und Geschwistern. Aber sie hatte aus Gottes Wort gelernt, dass man den Heiland bekennen und ihm treu sein müsse auch unter Schwierigkeiten, wie denn der Herr Jesus auch für uns so unendlich viel getan habe.
XX Es war Frühling geworden nach einem strengen Winter, und Hanne half der Auguste im Garten beim Bestellen der Blumen- und Gemüsebeete. Das Sprießen der Blumen und Bäume, der warme Sonnenschein und der Gesang der Vögel hatten im Herzen Hannes dankbare Freude geweckt, aber auch wieder Heimweh nach ihrem kleinen Dörfchen. Doch machte sie der Gedanke froh, dass Mutter und Geschwister es jetzt besser hatten als früher.
XX »Geh, Hanne, und suche in der Gartenlaube aus den Marienblumenbüscheln einige gute Pflanzen aus und bring sie hierher«, gab die Haushälterin ihr jetzt einen Auftrag.
XX Eilig lief Hanne auf die Laube zu und fing an, unter den Blumen zu hantieren, die dort in Kisten standen. Dabei klang es bald fröhlich von ihren Lippen:
XX Schönster Herr Jesu,
XX Herrscher aller Enden –
In diesem Augenblick stürzte die Haushälterin mit einem erhobenem Spaten auf die Laube zu und schlug zornbebend auf das Kind ein, indem sie kreischend rief: »Ich will dir deine frommen Mucken endlich austreiben!«
XX Wimmernd sank Hanne zusammen. Das Blut floss ihr am zarten Körper herunter. –
XX Ja, Kinder, das liebe Mädchen, von dem ich erzähle, hat wirklich solche Misshandlungen von jener Haushälterin erduldet, dass sie blutend davoneilen musste. Und das um ihrer Liebe zu Jesu willen.
XX Hanne wurde von ihrer Peinigerin auf ihr Schlafzimmer geschickt. Auguste konnte sicher sein, dass die Frau nicht gleich etwas erfuhr, immer noch hatte Hanne solche Vorkommnisse vor der Pflegemutter verschwiegen.
XX Weinend kniete die treue Bekennerin ihres Heilandes nieder, als sie auf ihrem Zimmerchen angekommen war, und schüttete das übervolle Herz vor ihrem Herrn aus. Und was betete das liebe Kind? Für die Haushälterin betete Hanne, dass Gott ihr vergeben und sie selig machen möchte! Aber ihr Gebet wurde diesmal oft von Klagen und Weinen über ihre Schmerzen unterbrochen.
XX Herr Butzemann war zu dieser Zeit gerade im Nebenzimmer beschäftigt. Als er die Laute des Kindes hörte, ging er in das Schlafzimmer Hannes und erschrak nicht wenig über das Aussehen der Misshandelten.
XX »Was ist mit dir geschehen, Hanne, wer hat das getan?«, fragte er erregt.
XX Da erzählte Hanne in kindlicher Aufrichtigkeit, was sich zugetragen hatte. Aber am Schluss bat sie, dass der Haushälterin nichts geschehen möge.
XX »Ich habe«, sagte sie, »den Herrn Jesus gebeten, dass er ihr vergeben und sie selig machen wolle. Ich weiß, er wird es auch tun.«
XX Der Kaufmann stand in tiefer Bewegung vor diesem seltsamen Kinde. Er hatte manche Predigt von tüchtigen Geistlichen gehört, aber so eindringlich war ihm wahres Christentum nie nahegebracht worden als in diesem Augenblick, wo das blutende Kind, Tränen in den Augen, mit zuckenden Lippen bat, der Auguste nichts zu tun..
XX »Du sollst es forthin besser haben, Hanne«, sagte der Pflegevater, »komm, wir gehen zur Mutter!«
XX Erst jetzt erfuhr diese, was ihre liebe Hanne bisher erduldet hatte von der Haushälterin. Aber es gelang den inständigen Bitten des Kindes, die Pflegeeltern davon abzuhalten, Auguste fortzuschicken.
XX Seit dieser Begebenheit war der Kaufmann manchmal sehr nachdenklich.
XX »Warum bin ich so voll Unruhe, und dies Kind hat solchen tiefen Frieden?«, fragte er sich zuweilen.
XX Dann wieder konnte er es nicht begreifen, wie Hanne für die Haushälterin gebetet hatte. Auch sah er, wie offenherzig, freundlich, gehorsam und dienstwillig sich Hanne nach wie vor befleißigte, mit Auguste umzugehen.
XX »Hör mal, Hanne«, sagte er eines Tages, als er für einen Augenblick im Garten auf der grünen Bank saß, und die ehemalige Ziegenhirtin, ein Lied summend, gerade vorbeiging.
XX »Was soll ich?«, gab sie zur Antwort und eilte auf den Pflegevater zu.
Der Kaufmann legte den Arm um die Schultern des Kindes, zog es an sich heran und fragte mit etwas unsicherer Stimme: »Sag einmal, Hanne, betest du auch für mich?«
XX Da schaute das Dorfkind mit den treuen blauen Augen seinen Wohltäter lieb an und sagte: »Oh, mehr als einmal am Tag. Und ich denke, ihr betet auch für mich, dass ich immer eine recht fromme, folgsame Tochter sein möge. Die Mutter tut es auch, das weiß ich!«
XX Dem Kaufmann fing bei diesen Worten des Kindes das Herz seltsam an zu klopfen. Was glaubte Hanne? Er bete für sie? Er, der nicht einmal für sich selbst betete?
XX Er strich dem Kind über den hellen Scheitel und sagte leise: »Du bist ein glückliches, seliges Kind. Der Segen Gottes wird auf dir ruhen. Gott mache mich so selig, wie du bist. Bete auch weiter für mich!«
XX Dann stand er auf und ging gedankenvoll zurück an seine Geschäfte.
XX Aber die Gleichgültigkeit über Gott und göttliche Dinge war aus seinem Herzen gewichen. Die Worte und Gebete Hanne Bodensteins lebten darin. Es packte ihn manchmal so stark, dass ihm das Wasser in die Augen treten wollte, wenn er daran dachte: »Dies Mädchen betet für seine Peinigerin, betet für dich, und du hast noch nie, weder für dich, noch für dies Kind gebetet!«.
XX Endlich konnte er es nicht mehr aushalten. Er fing an zu beten, und Gott gab diesem ehemaligen Flucher und Spötter Gnade zu aufrichtiger Buße und Vergebung seiner Sünden.
XX Welche Freude war das besonders für seine stille, fromme Gattin, die bald merkte, welche große Veränderung mit ihrem Mann vor sich gegangen war. Tiefer Dank gegen den treuen Gott füllte ihre Seele, und oft brachte sie dem gütigen Vater im Himmel Anbetung und Lobpreisung.
XX Aber wie dankbar war sie auch der lieben Hanne, die durch ihr wahrhaft christliches Vorbild das Herz ihres Mannes geöffnet hatte.
XX »Mein liebes Hannekind«, sagte sie eines Tages, indem sie ihr Pflegetöchterchen auf den Schoß zog, »wie bin ich dir doch so dankbar! Dich hat wirklich der Herr Jesus in unser Haus geschickt. Wie bin ich jetzt so froh, dass wir nun alle den Heiland lieb haben!«
XX »Nur für Auguste müssen wir noch beten«, meinte Hanne nachdenklich.
XX »Ja, das wollen wir getreu fortsetzen, bis wir auch hier Erhörung finden«, sagte Frau Butzemann leise und drückte einen Kuss auf die roten Lippen Hannes.
XX Der Kaufmann fing bald an, in der Familie Hausandacht zu halten, und dabei konnte Hanne jetzt nach Herzenslust ihre Lieder singen.
XX Auguste Bannig, die Haushälterin, kam bei dem allem aus dem Staunen nicht heraus. Sie musste wohl oder übel bei den Familiengottesdiensten zugegen sein, aber innerlich stemmte sie sich mit aller Macht gegen die Liebe Gottes, die an ihr arbeitete wie die immer wärmer scheinende Frühlingssonne an der hart gefrorenen Wintererde.
XX »Weiß nicht, was das für neue Moden sind, die jetzt hier eingeführt werden«, brummte sie eines Tages in der Küche, als Frau Butzemann gerade zugegen war, »möchte wissen, was diese Singerei und Beterei für einen Zweck hat. Wer nur unserem früher so verständigen Herrn den Kopf so verdreht hat!«
XX Sie nahm sich als Verwandte allerlei heraus in der Familie, und die oft allzu nachgiebige Hausfrau hatte keinen leichten Stand ihr gegenüber.
XX »Das muss ich dir vielleicht gerade einmal sagen, Auguste, es könnte dir über manche Dinge die Augen auftun«, entgegnete Frau Butzemann, »dem Hausvater ist nicht der Kopf verdreht, er ist jetzt viel klüger als früher, aber sein Herz hat einen starken Stoß bekommen, dass es darin licht geworden ist. Und dieser Stoß rührt mit von deinem Spaten her, mit dem du die Hanne so übel zugerichtet hast.«
XX »Was – was?«, stotterte Auguste, die erschreckt in ihrer Arbeit innehielt und ganz blass die Hausfrau anstarrte.
XX »Ja, komm einmal ein bisschen mit mir in die Stube, ich muss gründlich mit dir über die Sache sprechen«, sagte Frau Butzemann ernst.
XX Beklommenen Herzens ging Auguste Bannig mit der Hausfrau in ihr Zimmer, und hier erfuhr sie alles bis ins Kleinste: Wie Hanne alles so geduldig ertragen habe, wie der Pflegevater sie angetroffen, als sie betend und vor Schmerzen weinend in ihrem Zimmerchen kniete und dann inständig gebeten habe, doch ja der Auguste nichts entgelten zu lassen, für die sie bete.
XX »Das hat meinen Mann im Innersten getroffen, Auguste. Sieh, das ist der rechte Sinn Jesu Christi, der sich in Hannes Herzen offenbarte, « fuhr Frau Butzemann fort, »seit jener Zeit ist mein Mann nachdenklich geworden und hat über sein eigenes Verhältnis zu Gott nachgedacht. Und dann hat ihm Hanne auf seine Frage eines Tages gesagt, dass sie für ihn bete – und endlich hat er selbst zu beten angefangen. Und nun noch eins, Auguste: Hanne betet auch für dich – ich hatte sie letzthin auf meinem Schoß.« Frau Butzemann erzählte dann der Haushälterin den ganzen Vorgang, wobei ihr die Tränen in die Augen traten, als sie von der Sorge des Kindes um das Wohl ihrer Peinigerin sprach.
XX Als Auguste alles erfahren hatte aus dem Verhalten der edlen Hanne gegen sie und gegen die anderen Hausgenossen, sank ihr Kopf tief auf die Brust. Es war ihr alles wie ein Strafgericht. Schlimmer hätten sie harte Scheltworte oder große Körperschmerzen nicht strafen können, als das, was sie jetzt gehört hatte.
XX »Sieh, Auguste«, sagte die Hausfrau dann mit tiefer Bewegung, »der Herr Jesus hat wirklich noch seine Leute in dieser Welt, auf die er zählen kann. Ach und seine Absicht ist ja, uns allen zu helfen von unserer Unruhe, von unserer Sünde, von unserer Hoffnungslosigkeit. Und er will dir auch helfen und gebraucht dazu die liebe Hanne, die, ohne dass sie es weiß, meinem Mann solch tiefer Segen geworden ist.«
XX Auguste stand langsam auf und ging hinaus. Den ganzen Tag tat sie schweigend ihre Arbeit, aber was in ihrem Herzen vorging, weiß nur der gütige und weise Gott allein, der sich aus dem Munde der Unmündigen Lob zugerichtet hat.
XX Aber als Hanne am Abend in ihr Kämmerchen gekommen war und eben von ihren Knien aufstand, um sich zur Ruhe zu legen, kam Auguste zu ihr herein.
XX Was die beiden dort verhandelt haben, will ich nicht erzählen, aber ein schönes Bild steht vor meinen Augen: Auguste sitzt auf dem weiß angestrichenen Stuhl und hat die harten schwieligen Hände gefaltet. Und auf diese harten Hände, die einst die Hanne so grausam geschlagen haben, fallen dicke, schwere Tränen. Und Hanne steht neben der Haushälterin, hat ihre lieben Kinderarme um den Nacken der Weinenden gelegt und ihren Kopf auf ihren Scheitel gelehnt. Und nun höre ich die Worte:
XX »Oh Auguste, wie gut ist unser Herr Jesus Christus, wieviel hat er für uns alle getan! Wie bin ich doch so glücklich, dass du ihn nun auch lieb haben willst!«
XX Die Auguste war nicht von vielen Worten. Aber von dieser Segensstunde an war kein Widerstand gegen Gott und sein Wirken in ihrer Seele mehr. Sie nahm das Wort Gottes, das sie in den Familienandachten hörte, willig und endlich verlangend auf. Und so konnte Gott in ihrem Herzen sein Werk tun. Und Gottes Werk in den Herzen der Menschen ist, dass er uns durch den Herrn Jesus Christus zur Buße und zum Glauben führt, um uns selig zu machen.
XX Hanne Bodenstein hatte durch ihr treues Bekenntnis zu ihrem Heiland viel Licht und Freude in das Kaufmannshaus in der Stadt gebracht.
XX Aber wie groß war für sie selbst immer wieder die Freude, wenn sie ihre herzliebe Mutter und die Geschwister in Ödheim besuchen konnte. Die Mutter hatte jetzt eine freundliche, wenn auch kleine Wohnung und lebte dort wie eine rechte Witwe, die ihre Hoffnung auf Gott setzt und ihre Kinder in der Zucht und Ermahnung zum Herrn erzieht.
XX Wenn Hanne zu Haus war, dann wanderte sie gerne einmal die Straße nach Rumburg zu, wo der fremde Reiter sie nach dem Weg gefragt hatte und wo sie dann mit ihren Ziegen im Wettlauf hinter ihm hergerannt war.
XX Die Zeiten wandeln sich. Es gibt vielleicht heute nicht mehr solche bittere Armut, wie sie sich in den Tagen von Hanne Bodensteins Jugend oft zeigte, denn es wird viel getan, dass die Menschen es äußerlich gut haben. Aber es gibt zu allen Zeiten immer viele Menschen, die arm, ganz arm in ihrer Seele, an ihrem Herzen sind, die bei aller äußeren Bequemlichkeit des Lebens keinen Frieden und keine bleibende Freude haben, solche Menschen wie der unruhige Kaufmann Butzemann und die finstere, harte Auguste Bannig.
XX Wollen wir nicht helfen, diesen Menschen durch ein treues Bekenntnis zu unserem lieben Heiland den Weg zum Frieden Gottes zu zeigen, liebe Kinder?
XX Dann tun wir, was Hanne Bodenstein getan hat.
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Hanne Bodenstein ist 2014 im »Christlichen Versandantiquariat« von Roman und Elisabet Ingold-Gonzalez neu erschienen, zwei Euro, und kam im RZ-Verlag von Rudolf Zilke als Hörbuch heraus, zwei Euro, gelesen von Eduard Wall. Anfragen an Rudolf Zilke, rz-tonstudio@arcor.de.
Autor dieser erbaulichen Geschichte ist mein seliger Großvater Wilhelm Jörn. Seine Lebenserinnerungen finden Sie auf www.Joern.De/Aehren.htm. Die Geschichte erschien 1927 zusammen mit »Wie Lissi Guntermann ihrem Onkel Theodor das Sterben leicht machte« im Christlichen Verlagshaus Stuttgart, wo W. Jörn zahlreiche Werke veröffentlicht hat. Seit 2011 ist das Heft wieder faksimiliert – also in Fraktur – und wie hier in Antiqua beim Christlichen Verlagsantiquariat Ingold erhältlich. Ich habe es sanft angepasst an die neue Rechtschreibung und gelegentlich auch auf den geänderten Stil. Die Umsetzung (das optische Lesen, OCR, optical character recognition) erfolgte dankenswerterweise vom Christlichen Verlagsantiquariat mit Tessdata. Der Zeichner der originalen Vignette ist mir nicht bekannt. September 2011, Fritz@Joern.De
Link zu diesem Eintrag: http://blogabissl.blogspot.com/2011/09/hanne-bodenstein-und-ihr-bekenntnis-von.html
Siehe auch »Wie Lissi Guntermann ihrem Onkel Theodor das Sterben leicht machte«, ebenfalls von Wilhelm Jörn: http://blogabissl.blogspot.com/2011/09/wie-lissi-guntermann-ihrem-onkel.html
Autor dieser erbaulichen Geschichte ist mein seliger Großvater Wilhelm Jörn. Seine Lebenserinnerungen finden Sie auf www.Joern.De/Aehren.htm. Die Geschichte erschien 1927 zusammen mit »Wie Lissi Guntermann ihrem Onkel Theodor das Sterben leicht machte« im Christlichen Verlagshaus Stuttgart, wo W. Jörn zahlreiche Werke veröffentlicht hat. Seit 2011 ist das Heft wieder faksimiliert – also in Fraktur – und wie hier in Antiqua beim Christlichen Verlagsantiquariat Ingold erhältlich. Ich habe es sanft angepasst an die neue Rechtschreibung und gelegentlich auch auf den geänderten Stil. Die Umsetzung (das optische Lesen, OCR, optical character recognition) erfolgte dankenswerterweise vom Christlichen Verlagsantiquariat mit Tessdata. Der Zeichner der originalen Vignette ist mir nicht bekannt. September 2011, Fritz@Joern.De
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Siehe auch »Wie Lissi Guntermann ihrem Onkel Theodor das Sterben leicht machte«, ebenfalls von Wilhelm Jörn: http://blogabissl.blogspot.com/2011/09/wie-lissi-guntermann-ihrem-onkel.html
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