1. Februar 2020

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Gestern Nacht haben wir zwei uns – ganz allein im großen Kinosaal – »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« angesehen. Schön war’s, spannend war’s, gut gespielt, vor allem von Frau Mama Kerr (historische Figur) = Dorothea Kemper (Name im Film) = Carla Juri (Schauspielerin) und der Tochter Kerr = Anna Kemper = Riva Krymalowski .
   Kerrs Geburtsname war Kemper, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Kerr .
   Wikipedia beschreibt den Film wieder gut und umfassend:
https://de.wikipedia.org/wiki/Als_Hitler_das_rosa_Kaninchen_stahl_(2019) , allerdings in der Beurteilung mit gewohnter Tendenz zum Zeitgeist – letztlich Geschmacksache und in fortschreitender Zukunft leicht zu ändern.

Ich fand den Film eine Spur kitschig, fand den Kerr-Darsteller, im Film Max Kemper genannt, »Jungschauspieler« Marinus Hohmann aus Bad Aibling etwas sehr deutsch, ohne den klugen Charme und die Verbindlichkeit, mit der ich persönlich Juden verbinde. Too much Trenker, aber bitte.
   Die Musik wird als zu intensiv kritisiert; und ich kritisiere den mangelhaften Ton des fahrenden Zuges in der Ausreiseszene, dieses klare Tack-Tack, Tock-Tock, Tack-Tack, Tock-Tock …, ausgelöst von den zweiachsigen Drehgestellen, nahe hintereinander zwischen den Waggons und weit auseinander unter dem Wagen, wenn sie die damals noch nicht verschweißten Schienenstöße querten.
   Die Aufzählung der Qualen des nackten »Onkels« aus dem Zoo im Hundeszwinger als Käfig empfand ich als zu drastisch, unpassend für ein Flüchtlingsdrama, unpassend für Kinder. Doch jeder andere Seitenblick auf Holocaust oder Flucht wäre ebenso unpassend gewesen, denn eine typische Situation für Flucht gibt es nicht. Das zurückgelassene ausgestopfte Kaninchen hätte genügt. Die grausig-demütigende Stelle gehört für mich raus.

Im Gegensatz zur in der Wikipedia zitierten Filmbewerungsstelle meine ich nicht, »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl sei ein insbesondere auf die Filmerfahrungen eines jüngeren Publikums zugeschnittener Film, der nicht nur die NS-Zeit und den Holocaust thematisiert, sondern vor allem auch Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit: ›Themen, die heute mehr denn je zu zentralen Themen unsere Gesellschaft geworden sind. Und damit eben Themen, die auch filmisch weder zu früh, noch oft genug behandelt werden sollten.‹« (Hervorhebungen von mir.) Erstens ist nach meiner Erfahrung für uns heute vielleicht Zuwanderung aus Sicht der Einheimischen ein zentrales Themen, keineswegs aber aus Sicht der Auswanderer. So wie Ossis immer die heutigen meint, nie die DDR.  
   Als Einschub eine andere Flucht, ausgelöst weder von Judenhass noch von ungenehmen Veröffentlichungen. Ich zitiere aus den Erinnerungen meines Großvaters:
   Vom Nordosten, aus dem Raum Mährisch Ostrau, und aus Südosten, von der niederösterreichischen Grenze, näherten sich die Russen. General Schörner, Befehlshaber der deutschen Truppen in Böhmen und Mähren, hatte einen Verbindungsoffizier zum Verband Mährischer Industrieller, dessen Präsident ich war, abgestellt. Dieser Major hatte uns erklärt, daß er Befehl seines General habe, keine führenden Industriellen in die Hände der Sowjets fallen zu lassen. (Warum nur Industrielle? Warum nur »führende«?...) Jedenfalls konnten wir alle mit einer gewissen Ruhe dem Kommenden entgegen sehen.
   Am 17. April 1945, abends etwa einhalb zehn Uhr, ging das Telefon in meiner Wohnung, [Brünn,] Schreibwaldstraße 156. »Es ist so weit! Wir alle treffen uns in Iglau, in der (arisierten) Fabrik vormals Löw in Helenental. Aber Achtung, die normale Verbindung Wienerstraße-Iglauerstraße über Zentralfriedhof darf nicht gewählt werden, es sind dort ein paar russische Panzer durchgebrochen.« So fuhren wir drei, meine Frau, mein Chauffeur Otto Jelinek und ich im vorbereiteten kleinen Tatra-Wagen, Eigentum von [Tochter] Mariandl [meiner Mutter], ausgerüstet mit zwei kleinen Koffern und zwei vollgepackten Rucksäcken in tiefer Nacht gegen Iglau. Immer wird mir in Erinnerung bleiben, wie ich mein Schlafzimmer verließ – mit einem Blick auf das zum Schlafen vorbereitete Bett, vor ihm die Hausschuhe, daneben der Kleiderschrank, aus dem ich noch irgend einen Mantel oder Rock genommen hatte. »Das alles wirst du nie mehr wiedersehen!«
 
Zurück zum Film. Er hat für mich einen eindeutigen Schwerpunkt, den Antisemitismus, dieses »Weil wir Juden sind«. Das macht ihn nicht weniger gut. Nur die Vorstellung, dass er auf Jugendliche »vor allem« für Vertreibung steht, ist naiv; im Gegenteil, der gedankliche Weg zu den heutigen Vertreibungen, etwa in Syrien oder Afrika, zu den »Heimatvertriebenen« einst, der ist – besonders für primär auf den Holocaust fokussierte Jugendliche – abseitig.
   Viele Künstler verließen damals das NS-Regime, ohne Juden zu sein, viele DDR-Bürger flohen den Arbeiter- und Bauernstaat, als die Mauer noch nicht stand, ich habe das erlebt.

Ich vermute, dass das Prädikat Besonders wertvoll für den Film Als Hitler das rosa Kaninchen stahl vor allem eine dankbare Verbeugung vor den zahlreichen öffentlichen Sponsoren war:

Zitat Wikipedia: »Das Medienboard Berlin-Brandenburg förderte den Film mit 650 000 Euro. Vom BKM erhielt er eine Produktionsförderung in Höhe von 500.000, vom FilmFernsehFonds Bayern in Höhe von 500.000 Euro und von der Filmförderungsanstalt ebenso in Höhe von 500.000. Die Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg gewährte eine Produktionsförderung von 400.000 Euro.« Summe 2½ Millionen Euro.
   Bekanntlich meine ich, dass man aus der Vergangenheit nichts lernt. Vielleicht Strategie für Schlachten. Der Holocaust wird sich kaum wiederholen. Wir begehen (erfinden, fliegen, fernsteuern) unsere eigenen Verbrechen, die mir auf der Seele liegen.

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PS. ––––––––––––––––––––––––––––––––– 
Zu den neuen Kriegsverbrechen, aktuell herausgegriffen, Minen. Inzwischen ist die halbe Sahara vermint.
   und:

Der Holocaust ist immer etwas anderes. Ein Blick in die Tiefe des Holocaust und vor allem der Problematik der Erinnerung gibt der NZZ-Artikel von Natan Sznaider vom 30.1.2020, der mit einem düsteren Gedicht von Primo Levi beginnt:

Ihr, die ihr abends beim Heimkehren 
Warme Speise findet und vertraute Gesichter:
Denket, ob dies ein Mann sei, 
Der schuftet im Schlamm, 
Der Frieden nicht kennt, 
Der kämpft um ein halbes Brot, 
Der stirbt auf ein Ja oder Nein. 
Denket, ob dies eine Frau sei, 
Die kein Haar mehr hat und keinen Namen, 
Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat, 
Leer die Augen und kalt ihr Schoß
Wie im Winter die Kröte. 
Denket, dass solches gewesen. 
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. 
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet 
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen, 
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht; 
Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern. 
Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen, 
Krankheit soll euch niederringen, 
Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.

Von Primo Levi herausgekommen 1947, Übersetzung wohl von Levis’ Freund Heinz Riedt , angelehnt an 5. Mose (Deuteronomium) 6, 4 bis 9:

Dtn 6,4 Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig.
Dtn 6,5 Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.
Dtn 6,6 Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen.
Dtn 6,7 Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst.
Dtn 6,8 Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden.
Dtn 6,9 Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.
   Levi im Original:
«Considerate se questo è un uomo
Che lavora nel fango
Che non conosce pace
Che lotta per mezzo pane
Che muore per un sì o per un no.» 



   Zu Levi lesenswert die Wikipedia:
»1938 erließ die faschistische Regierung Italiens ein Rassengesetz, das es jüdischen Bürgern verbot, staatliche Schulen und Hochschulen zu besuchen. Dennoch schaffte es Levi 1941, sein Studium mit Auszeichnung zu beenden. Auf dem Abschlusszeugnis war jedoch der Vermerk ›von jüdischer Rasse‹ zu finden.«
   Wie etwa Curt Herzstark war Levi, Chemiker und gefasst als Partisan, ein privilegierter Fachmann, siehe auch http://www.joern.de/FAZHerzstarkk.pdf , und überlebte das KZ.
   Mehr zu Levis Gedicht hier. (Allerdings überlebte Primo Levi Auschwitz nicht bloß durch ein Wunder, sondern als Zwangsarbeiter für die I. G. Farben, wie die Wikipedia berichtet. »Am 22. Februar 1944 wurde Levi in einem Transport des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) nach Auschwitz deportiert. Von den 650 Frauen, Männern und Kindern dieses Zuges, die am 26. Februar 1944 in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion 95 Männer und 29 Frauen als Häftlinge registriert und ins Lager eingewiesen.«.
   Selektion in Birkenau am 24.5.1945 (Auschwitz-Album), Bild Wikipedia, Ausschnitt

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