Meine eigensinnigen, recht deutschen Gedanken zu Kollektivschuld wollte ich schon immer aufschreiben. Die Erbsünde ist wieder etwas anderes. Ich empfinde mich als liberal, scherzhaft als »Anarchist«, nicht aber als rechts, schon gar nicht radikal oder Revanchist.
Ich bin 1941 in Brünn in Mähren geboren, vormals eine alte österreichische Provinzstadt, die damals den Wirren der Kriege unterworfen war. Ich hole historisch etwas aus.
Bis zum ersten Weltkrieg hatten dort (»dorten«) die k-und-k-österreichischen Einwohner, Tschechen und Deutsche, jahrhundertelang ordentlich zusammengelebt. Inzwischen waren Nationalstaaten Mode geworden. Deshalb wurde 1905 ein noch heute mustergültiger »Mährischer Ausgleich« erarbeitet. Masaryk (1850–1937), Mitbegründer und erster Staatspräsident der Tschechoslowakei (1918–1935) hatte gemeint: »Meine Heimat war nie so glücklich wie als Bestandteil der österreichisch-ungarischen Monarchie« (Quelle Wikipedia, dort Lothar Selke: Die Technische Hochschule zu Brünn und ihr Korporationswesen. Einst und Jetzt, Bd. 44 (1999), S. 106)
Nach dem Ersten Weltkrieg war das dann so: »Die deutschsprachige Bevölkerung Böhmens, Mährens und Mährisch-Schlesiens sowie der Slowakei erhielt, wie auch die meisten anderen nicht zum offiziell proklamierten tschechoslowakischen Volk gehörenden Einwohner, die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit.«. Die ČSR förderte wohl die Tschechen, doch sie, Zitat, »erlaubte ihren Einwohnern durch die Verfassung, ihre ›Nationalität‹ aus verschiedenen Möglichkeiten zu wählen. Besonders relevant ist hierbei, daß neben der tschechoslowakischen, deutschen und ungarischen auch eine ›jüdische‹ Nationalität zur Auswahl stand«. Allerdings war die »Zweite Republik« (1938—39) antisemitsich.
Am 15. März 1939 überfiel Hitler zum ersten Mal nicht mehrheitlich ethnisch deutsches Gebiet. Im »Protektorat Böhmen und Mähren« wurden alle Deutschen per Erlass zu Reichsdeutschen; die im Oktober 1938 anlässlich der Übernahme des Sudetenlandes in das Deutsche Reich eingeführte Wahlmöglichkeit wurde aufgehoben. »Hier konnte ich nicht mehr mittun, von hier an versagte mein Vertrauen zum ›Führer‹«, notiert dazu mein sel. Großvater, ein österreichischer »Großdeutscher«.
Nach dem Ende des Krieges wurden alle Deutschen aus Brünn wild vertrieben, siehe etwa den Bericht in der NZZ.
Greencard (eher blau, oder?) |
Das eine Mal Tscheche, das war ich, als ich 1971 meine amerikanische Greencard ganz ohne Wartezeit bekam, denn das tschechische Kontingent war zu Zeiten des kalten Krieges natürlich nicht ausgeschöpft. Aus dem Ostblock durfte keiner auswandern.
Das Kriegsende 1945 erlebte ich als dreijähriges Kind in Kitzbühel, und habe nur ganz wenig Erinnerungen an heulende Sirenen und marodierende Soldaten, die in den Vorgarten des Hauses Michael eingebrochen waren, wo wir oben unter Dach wohnten.
Mein sel. Großvater hatte vorgesorgt. Seine eigene Flucht verlief glücklich, beschrieben in seinen Erinnerungen.
Dann zogen wir nach Südtirol weiter, 1946.
Und jetzt lebe ich in Bonn am Rhein, neudeutsch sich »Bundesstadt Bonn« nennend; für mich scherzhaft »das Meran des Nordens«.
Und – um zur Sache zu kommen – frage ich mich:
Ein paar provokante Fragen (»Impulsfragen«)
· Warum sind die Franzosen stolz auf Napoleon, der in der Schlacht von Waterloo vierzigtausend Tote auf dem Gewissen hat, und erst im Russlandfeldzug:
Napoleons Russlandfeldzug und seine Verluste., dazu die Temperatur in Grad Réaumur. C.F.Minard, 1869: Carte Figurative des pertes successives en hommes de l’Armèe Française dans la campagne de Russie 1812–1813. |
· Warum haben wir in Berlin nach wie vor die »Karl-Marx-Allee«? Marx war für den Kommunismus mit verantwortlich, der m. E. hundert Jahre Unglück über die Welt gebracht hat. Ich persönlich finde den Kommunismus in seiner historischen, immer noch weiter grassierenden Wirkung total unterschätzt.
Und jetzt weiter zugespitzt:
· Sind die Römer am Brand Roms unter Kaiser Nero schuld?
· Kann man die Ostdeutsche Angela Merkel für Schießbefehl und Mauertote in der DDR verantwortlich machen?
· Sind »die Deutschen« an den über sechzig Millionen Kriegstoten des Zweiten Weltkriegs schuld? An den acht Millionen deutschen Opfern auch, oder nicht? Konkreter: Ist mein sel. Großvater, ein protestantischer Prediger, am Kriegstod aller seiner Söhne (bis auf einen, der nicht tauglich war) schuld? Hat meine Mutter Schuld am Tod meines gefallenen Vaters?
· Schließlich: Ist der Nationalsozialismus eine deutsche Schuld? – Gewiss doch, denn er trat hier auf. Aber ist er »Schuld der Deutschen«?
Politischen Entwicklungen gehen andere politische Ereignisse voraus. Man kann vielleicht sagen, wie etwas gekommen ist, wie sich etwas entwickelt hat. Je konkreter eine Situation ist, desto konkreter mag man die Verantwortlichen benennen können, mag vielleicht ihre individuelle Schuld ermessen.
Doch zurück zum Nationalsozialismus.
· Sollen sich die Deutschen heute noch für die nationalsozialistischen Gräuel verantwortlich fühlen?
· Für den »Vater der Atombombe«, Robert Oppenheimer, dessen Vater 1888 aus Hanau nach Amerika ausgewandert war. Oder die Juden, denn Oppenheimer war Jude. Oder die Amerikaner?
· Wenn es eine »deutsche« Schuld gibt, bekommt man die mit dem neuen deutschen Pass mit ausgehändigt, z. B. als Türke? – Dann bräuchte es wohl Warnhinweise drauf: »Achtung, dieser Pass kann ihnen Ärger machen«. Weist der deutsche Standesbeamte ordentlich darauf hin?
Eine Lösung sine ira et studio
Je weniger moralisch bewertend wir historisches Geschehen ansehen, desto mehr wird uns gelingen, den Sachen auf den Grund zu gehen. Es ist das wie bei einem physikalischen Experiment: Je mehr man messend eingreift, desto mehr verändert man das Ergebnis, den Versuchsablauf. Wenn wir die Vergangenheit kennen und nachempfinden wollen, dürfen wir nicht moralisch die Schuldfrage stellen. Wir sollten im Großen die Ereignisse kennen, und im Kleinen, im Mitgefühl einzelne Schicksale nachverfolgen.
Selbst dann kann Krampf herauskommen, etwa beim Versuch, den Schriftsteller Georg Britting 2015 rückschauend als »Inneren Emigranten« zu desavouiren oder auch nicht, hier.
Erinnerung?
Lernt man aus der Erinnerung? Wenn die Erinnerung nur dazu dient, alten Streit aufzuwärmen, dann bringt sie nichts Gutes. So halte ich z. B. die ganze Diskussion um die Armenier vor hundert Jahren für längst nicht mehr zeitgerecht. Wie das eingestuft wird, ist ein Streit um Wörter. Denn was lernen wir daraus? Nichts. Was haben wir daraus gelernt? Auch nichts. Vertreibungen gibt es heute mehr denn ja in der Welt.
»Damit sich so etwas nie wiederholt!« – ist für mich meist ein rhetorisches Argument.
Viel des Bösen ist und bleibt aus seinen Umständen und seiner Entstehung einmalig, »singulär«, anderes wiederholt sich immer wieder.
Ich plädiere da eher für das Weiterdenken heutiger Situationen, etwa dem Mangel an Wasser, der Überschuldung der Gemeinwesen. Seit dem Zweiten Weltkrieg häufen wir Konflikte auf, von denen wir wegschauen, wenn dort nur kein offener Krieg mehr herrscht. Palästina, Syrien, Jugoslawien, Ukraine, Transnistrien (wo ist das?), und vieles mehr.
Schauen wir nach vorne, wie das beim Thema Umwelt getan wird. Da greift auch niemand argumentativ auf den Römischen Schiffsbau zurück, wenn er für eine weitere Aufforstung Italiens plädiert.
Ich hoffe, dass diese Gedanken niemanden ärgern oder kränken. Sie sollen nachdenken lassen.
… und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Link hierher: http://blogabissl.blogspot.com/2015/09/schuld.html
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