»Thanatorium«
Nicht einmal Microsoft kennt ein »Thanatorium« und unterkringelt rot. Ein Sanatorium? Eine Baumschule? Das Ding kannte ich aus Amerika, nicht aber den neuen Namen. Drüben heißt es »Funeral Home«, das versteht jeder. In einem möglichst normal aussehenden Einfamilienhaus in einer Siedlung nahe beim Friedhof lässt sich ein Bestatter nieder. Unten ist ein kleines Büro, vielleicht ein Vorführraum für Urnen und Särge und sonstige post-mortale Ausstattungen, dann vor allem das Gedenkzimmer, möglicherweise auch mehrere. Vitrinen zeigen Totenmasken im Modell – sind eigentlich immer Modelle, nicht wahr? –, dazu Stein-, Holz- und Kerzenschmuck nach Geschmack. Im größten Zimmer steht erhöht der Sarg, offen zunächst, auf dass man »Abschied nehmen« kann, mit und ohne Digitalkamera. Ich erinnere mich: In Amerika war wie bei einer Saloon-Türe nur die obere Sarghälfte geöffnet. Kurz vor der Trauerfeier wird der Sarg geschlossen. Ab dann geht es präzise programmiert und würdevoll dem Grab entgegen, unter die Erde.
Nach dem Begräbnis meines Onkels Carl in Princeton 1982 habe ich so eine Bestattungsanstalt erst wieder gestern erlebt, am 10. August 2007. »Thanatorium« soll von Thanatos, Θανατος, kommen, dem Tod im Griechischen; jedenfalls ist der Begriff so frisch (und kommerziell so vorteilhaft), dass Google einen an erster Stelle direkt zum Lübecker Bestatter führt. Stimmung und Ablauf sind hier an deutsche Geschmäcker angepasst, sind wirklich perfekt, Respekt! Das läuft so professionell, dass ein landesübliches kirchliches Begräbnis im Vergleich zur Feier im Lübecker Thanatorium wie eine wenig geübte Laiendarstellung gewirkt hätte. Der Redner, Herr Kröger, hatte seine gut recherchierte und wohl vorbereitete Grabesrede in eine Handvoll gut genießbare Häppchen aufgeteilt. Dazwischen gab es Musik von CD oder der Empore, die Kinder durften sich zur Cellistin umdrehen. Herr Kröger und ein gedrucktes Programm, komplett mit Farbfoto des Verstorbenen, führten durch die Veranstaltung. Jeder bekam diskret eine rote Rose zugesteckt. Am Ende stand man auf, es durfte ein Vaterunser gebetet oder einfach still etwas gedacht werden. Selbst die sechs solemnen Sargträger erschienen wie aus der Requisitenkammer entliehen, würdig und alt und mit wallenden Bärten. Der Leichenwagen war, genau wie in Amerika, ein Amischlitten, zeitlos würdig-pompös halt. Ansonsten hielt sich der Pomp in Grenzen. Die Farben waren hell, die Toiletten direkt neben der Thanatoriumshalle, die Halle fast wie ein Wohnraum mit Teppichboden und weißer Balustrade. (Sogar ein Temporär- »Kolumbarium« steht zur Verfügung.) Das Haus selbst sah wie ein großes Fertighaus aus, umgeben von gekiesten Parkplätzen.
Als 1981 meine Tochter gestorben war, da hatten wir sie vor dem Begräbnis – ganz unbewusst nach alter Aussegnungs-Sitte – in ihrem eigenen Zimmer aufgebahrt. Unvollkommen. Und doch uns ein Anliegen.
Zurück zu gestern. Zum eigentlichen Anlass möchte ich hier schweigen. Genug sei gesagt damit, dass die Feier wirklich schön war.
Nur selbst habe ich mich dabei erwischt, wie hart mein Herz ist, wie alt. Wie ich das Sterben und den Tod als Kurzzeitereignis verdränge, eingetreten laut Sterbeurkunde »zwischen dem 05. August 2007 um 23 Uhr 00 Minuten und dem 06. August 2007 um 06 Uhr 30 Minuten«, wie ich mich jedenfalls hüte, immerfort über die aktuelle Ursache nachzugübeln. Da spüre ich eher Ärger als Trauer. Hader, Zorn fast, aber keine rechte Trauer. Ich bemühe mich, den Verstorbenen und die Seinen nicht zu beurteilen, schon gar nicht zu verurteilen; das bleibe dem lieben Gott vorbehalten. Sogar das »liebe« an Gott mag ich nicht mehr, sehe Gott ernst und ewig und entweder fern und klar oder nah und entsprechend nebulös. Wie in einer theologischen Unschärferelation. Als betrachte er unser menschliches Treiben gelassen, inzwischen vielleicht fast gelangweilt, und lässt es doch gut sein oder böse nach seinem Urteil – das er dann fällen wird zu seiner Zeit, spätestens am Jüngsten Tag. Solange sind bei Gott Gerichtsferien.
Den Verstorbenen selbst, von dem sich viele der Trauergäste umgeben fühlten, jedenfalls sagten sie das, konnte ich zwar in meiner Erinnerung ausmachen, nicht aber frei schwebend um uns, schon gar nicht im Lichte. Dieser Gedanke mag manche trösten, bis sie dann die irdische Wirklichkeit einholt: Der Mann ist nicht mehr da, der Mann, Papa, Sohn, Bruder, Schwager und Onkel, wie es in der Anzeige steht, der Freund, Geliebte, am oder im Weg Stehende. Trennung, Scheidung auf Lübecker Art.
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