Als Kind lebte ich in Bozen. Mein Zimmer in einem schlossartigen Haus, das heute noch steht, wandte sich nach Süden. Ich schaute hinaus auf die Sankt-Johann-Straße. Eigentlich hörte ich hinaus. Gegenüber war eine kleine Motorrad-Werkstatt, ein Zündapp-Konzessionär, und alle Probefahrten passierten entsetzlich laut unter meinen Ohren.
Ich lebte bei meinen sel. Großeltern, die als Heimatvertriebene in Bozen fremd waren; mein Vater aus Königsberg war im Hürtgenwald gefallen, an ihn habe ich, 1941 geboren, keine Erinnerung. Meine Mutter arbeitete weit weg in Köln, die sah ich nur ein-, zweimal im Jahr.
Gegenüber auf der anderen Straßenseite, hinter einer Mauer, über die ich aus meinem Zimmer im ersten Stock drüberschauen konnte, stand eine Mühle, Wahrzeichen zwei Rösser und ein Rad. Sie wurde dann neu gebaut, war sechs oder sieben Stockwerke hoch, und malte mit stetem Geräusch vor sich hin, beziehungsweise von oben nach unten.
Und ich sollte nach dem Mittagessen doch schlafen! Dazu waren die raffinierten italienischen Fensterläden fast geschlossen. Im Dämmerlicht phantasierte ich mich in die Vorhänge hinein, eine wehende Landschaft mit aufsteigendem Weg auf einen Hügel und vielen Formen zum Träumen.
Im großen Garten hintenhinaus floss der Mühlbach, erhöht aber offen, gefährlich für Kinder, daneben war der Nutzgarten der Hausmeisterin. Der Garten selbst war großteils vornehm belassen, mit Kieswegen und einer riesigen Zeder, an der die lange Schaukel hing. Im Stockwerk über uns wohnte eine alte Bozner Familie, Weinproduzenten mit der großen Kellerei am Ende der Straße, wo wir Kinder uns mit der hohlen Hand Rebensaft aus der Presse abzweigen konnten. Die oben hatten einen etwas jüngeren Bub, Erwin, der mir später sogar kurz ins Internat nach Bayern folgte.
Die Sankt-Johann-Straße, die nach der Kirche im rein deutschen Viertel hieß, wurde bald »postfaschistisch« zu Cavour-Straße umbenannt. Die Spannungen zwischen Deutschen und Italienern waren noch deutlich.
Märklin-Modell 2683 |
Was sah ich auf dieser Straße nicht alles! Nicht nur Zündapps mit Beiwagen. Besonders die Transporter waren eigentlich fortschrittlicher als Autos heute. Ich erinnere mich an letzte Stangeneis-Versorger für die Kühlschränke, die mit langsamen, batteriebetriebenen Fahrzeugen unterwegs waren, bessere Holzkästen. Auch Selters wurde damals noch flaschenweise ins Haus geliefert, Brennholz natürlich. Ein kettenangetriebener Zugwagen, ebenfalls mit Elektromotor, zog gelegentlich auf einem Tieflader mit Vollgummireifen einen ganzen Eisenbahnwaggon durch die Straße, in die Weinkellerei? Der fuhr natürlich ganz langsam, damit ich mir den seltenen Transport »vom ersten Rang« aus gut ansehen konnte. Übrigens waren damals für den Gepäcktransport überall auf den Bahnsteigen batteriegetriebene Zugwagen üblich, »Eidechsen»; der Fahrer stand vorne und lenkte mit einem seitlichen Hebel (»Wippenlenkung«), hinter ihm oft eine Schlange von Gepäckwagen.
Meine Großmutter schickte mich jeden Tag zum Einholen. Hinten im Viertel am Ende der Sankt-Johann-Gasse war ein Milchgeschäft. Die Milchkanne brachte man noch selbst mit. In der nahen Bindergasse gab’s den Chilovi als einziges italienisches Geschäft: Er hatte ein kleines Lebensmittelgeschäft beim Pfau, einem Gasthaus dort. Da kaufte ich etwas Schinken und einen Schlag Tomatenmark für unser Abendessen. Das Mark schöpfte er aus einer riesigen Dose, einem Eimer eigentlich, und klatschte die zehn Deka (Dekagramm) auf ein wasserfestes Blatt auf der Waage, das er dann flink und kunstvoll zu einem markdichten Stanitzel faltete.
Dazu sollte man wissen, dass meine Großmutter nicht kochen konnte. Sie stammte aus wohlhabendem Hause aus Mährisch Ostrau und sagte immer nur: »Ich wäre ein gutes Stumm-Mädel geworden, mit Staub kann ich umgehen.« Später verstand ich, dass Sie ein »Stubenmädel« meinte, sozusagen modern die Putzfrau. Dich ihre Standardgerichte waren hervorragend: Rahmschnitzel, Reis. Großvater bestand darauf, abends warm zu essen. Pizza gab’s noch nicht, erst recht keine Lieferdienste. So hatte sich Großmama »Reis mit Paradeissoß’« einfallen lassen. Dazu etwas Mortadella, gelegentlich Schinken vom Fleischhauer am Zwölfmalgreienpatz, und am Freitag fromm fleischlos nur Ölsardinen aus der Dose … (Ich könnte dieses Standard-Leibgericht noch heute täglich essen, nur meine Familie nicht.) Die Tomatensauce hatte den Vorteil, dass Großmutter sie schon vorher kalt abschmecken konnte, mit Zucker und Salz. Ich musste, wenn’s eilig war in der Küche, also nur darauf achten, dass die Sauce nicht überkochte. Und unseren Siphon durfte ich mit der CO2-Kartusche laden, denn frisches, kühles Wasser gehörte zu Großvaters »gespritzten« Glas Weißwein. Großmutter trank Roten: normalen »Kalterer See« an Werktagen, an Feiertagen oder mit Gästen »Sankt Magdalener«, beides jeweils aus der nahen Weinkellerei. Wir bekamen da Rabatt. Rabatt gehörte sich einfach in Bozen. Alles andere ist unfreundlich: Man wird zum Fremden. Heute sind sich alle immer nur fremd, aber das kommt von der Menge. Ich schweife ab. Und überhaupt muss ich aufhören, denn freitags esse ich Bratfisch in der Stadthauskantine am Ende der Straße.
Mein Fenster sehen Sie übrigens auf http://www.joern.de/HofPfingsten06.pdf . Erinnerungen in einer Zeit, in der, pardon, das Internet noch nicht so verklemmt war wie heute.
Mehr zur »Eidechse«-Elektrokarre: http://www.gohlis.info/ein-fund-auf-dem-antikmarkt-die-eidechse-erinnerungen-an-den-elektrokarren/
Zum Tod meines Vaters: http://j.mp/2I5Orl2
Link hierher https://bit.ly/fj3kCfXL7
= https://blogabissl.blogspot.com/2020/10/als-kind-lebte-ich-in-bozen.html
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen