27. November 2016

Das Kriegsgrab

Meldung vom Donnerstag, 17.11.2016, 13.59 Uhr: »Auf der Überfahrt von Afrika nach Europa sind seit Montag mehr als 340 Menschen ums Leben gekommen.« Einfach so. Da haben wir uns dran gewöhnt. Moderner Tod ist massenhaft, umrankt von frommen Reden und ohnmächtigen Sanktionsandrohungen, schon auch von Leuten, die helfen*).
   Doch ich wollte weiter zurückschauen.
Nicht das Grab meines Vaters. Zum Nachdenken:
»Josef Hess 1938—1945, Josef Hess 1898—1945«
Dafür bin ich am Freitag in die Eifel gefahren. Dort liegt seit 72 Jahren mein Vater begraben, auf einem schönen, aber einsamen Soldatenfriedhof. Ich bin 74; an meinen Vater habe ich keine Erinnerung. Gefehlt hat er mir nicht; ich hatte halt keinen.
   Ich finde, wir denken zu wenig an »unsere eigenen« Toten. 
   Weil ich überhaupt finde, dass wir wenig denken, vor allem wenig weiterdenken, hinterdenken, mit Phantasie weiterspinnen in unseren Gedanken. 
   Am Soldatenfriedhof (auch »Ehrenfriedhof« genannt, na ja …) habe ich dafür meine bevorzugten Gedenkgräber, dieses hier etwa von »Josef Hess 1938—1945, Josef Hess 1898—1945«, oder »Peter Koenn 1927—1945, Johanna Koenn 1930—1945«, Helmut Egger aus Wien und andere mehr dort. 
   Die Schuldfrage ist mir inzwischen einerlei. Ich meine nicht, dass man aus Schuld etwas lernen kann; ich meine nicht, dass sich Geschichte wiederholt; vor allem meine ich, dass jeder einzelne Tod eine einzige »Sache« ist, ein Einzelereignis, ein unwiederbringliches irdisches Ende für den Beteiligten, und eine mehr oder weniger große, wichtige Geschichte für die, die ihn kennen und dann nur mehr kannten.
   Bei (der) Schuld bin ich dafür, sie schon nach ca. zwanzig Jahren ruhen zu lassen. (Dass das Massker an den Armeniern 1894—96 kein Völkermord war, das vor hundert Jahren 1915—16 schon, das beschloss am 2. Juni 2016 »mein« Bundestag. Ich finde das populistisch, oder irrelevant; vielleicht mag aber die Benennung manche trösten, andere ärgern.) Ich bin gegen moralische Urteile in der Geschichte, wie gesagt nach zwanzig Jahren oder mehr: Man kann sich die Zeit nicht mehr vorstellen, und die Leute sind andere geworden.
 Aus dem Lesebuch für Grundschulen 1941

    Herr, schütze unser deutsches Land!
    Dem Führer, den du uns gesandt,
    gib Kraft zu seinem Werke!
    Von unserm Volke nimm die Not!
    Gib Freiheit uns und täglich Brot
    und Einigkeit und Stärke!
   Ich selbst hege keinen Groll gegen den Amerikaner, der meinen Vater erschoss (owohl ich eine genaue, grausige Erzählung darüber habe+). Ich versuche höchstens, meinen tapferen Vater zu verstehen, und frage mich aus heutiger Sicht, warum er da nicht einmal lieber nicht tapfer gewesen war. Ich bin nur traurig, dass die damals nicht aufhören konnten – und dass wir sie heute vergessen.
   
Dies zu seinem Gedenken.

Koordinaten 50° 28' 22,62" N – 6° 27' 51,80" O

   Links
Die aktuellen Bilder finden Sie hier.Die von 2013 hier.
Die von 2010 hier. 

• Erste Gedanken 1990 auf http://joern.de/eifel.htm

• Langer Blogeintrag zum Thema Schuld:
    http://blogabissl.blogspot.com/2015/09/schuld.html 




• Über den Tod meines Vaters:
   http://blogabissl.blogspot.com/2017/11/dann-kam-mit-all-seiner.html

NZZ-Artikel über den »Untergang der deutschen Wehrmacht«

Link hierher: http://blogabissl.blogspot.com/2016/11/das-kriegsgrab.html

*)(dpa) Innerhalb von zwei Tagen sind bei vier Schiffbrüchen nach Behördenangaben mehr als 340 Menschen bei der Überfahrt von Afrika nach Europa im Mittelmeer ums Leben gekommen. Allein etwa 100 Menschen starben nach Angaben der internationalen Migrationsbehörde IOM in der Nacht auf Donnerstag, wie Sprecher Flavio Di Giacomo auf Twitter mitteilte. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen habe 27 Menschen von dem verunglückten Schiff retten können, auf dem insgesamt 130 Menschen von Libyen aus unterwegs waren. «Diese Tragödie ist einfach unerträglich», schrieb Ärzte ohne Grenzen auf Twitter.

+) Bei mir Datei \\WDMYCLOUDEX2\Public\Bilder\VaterJörn\readmefj.doc

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