Heute spielte in unserer samstäglichen Mittagsandacht in der Stiftskirche die Orgel wieder »Großer Gott wir loben dich« – unser Drehorgelmann Hermann mit der passenden Walze! Dieses te deum soll auf das vierte Jahrhundert zurückgehen. Singen durften wir Corona-bedingt nicht, also dachte ich so für mich: Loben wir Gott? Oder verfluchen wir ihn ob all der Kriege, Aufstände, der Pandemie, der Überbevölkerung, dem Leid, das Politik und Kirche überall anprangern und doch nicht wegbekommen, teils sogar selbst verursachen, gegen das wir anbeten, wenn überhaupt, unser ewiges »Erbarme dich unser!«
Bis etwa zum Holocaust – das Wort wurde erst ca. 1978 geprägt –, lobten wir Gott zu allen besseren Gelegenheiten, wir beteten um fruchtbringendes Wetter, um den Nachlass unserer Sünden, für unser neues Auto, und waren doch nicht überfromm dabei. Heute? Gott lässt geschehen, die Menschen wursteln herum ohne ihn, mal gut, oft böse.
Ich will einmal zurückschauen auf Bayern von 1950 bis vielleicht 1960, will da etwas »zeitzeugen«. Von meinem zehnten bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr lebte ich dort in einem staatlichen Landschulheim; also nicht in einem Kloster oder einer elitären Privatschule. Im Bett auf Drahtgittern mit Drahtfedern und dreigeteilten Matratzen; gerissene Gitter haben wir notfalls nachts mit Spagat repariert.
Die Erziehung, die ich dort bekam – bis zu meiner letzten Watsch’n coram publico vom Direktor persönlich, so mit vierzehn – diese Erziehung war also sozusagen guter bawarischer Durchschnitt. Richtungs- und Politik-durchsetzt wie heute war sie nicht. Die Dinge waren so, wie sie waren, eindimensional, und wir haben sie gelernt. 1953 starb Stalin, was wir bei der üblichen Morgenandacht im Schloss erfuhren, und entgegen allgemeiner Hoffnungen änderte sich dadurch weiter nichts. Hier eine Wochenschau.
Wir haben im Internat allein und unter uns viel nachgedacht und diskutiert. Was anderes gab’s nicht zu tun. Kein Fernsehen, kein Telephon (eine Zelle im Dorf unten). Jede Woche mussten wir einen Brief nachhause schreiben. Das wurde anfangs noch kontrolliert.
Über Sex haben wir wenig gesprochen, hatten auch keine »Heftln«. Wir durften uns den »Tierfreund« bestellen, ich war aus dem zweisprachigen Südtirol zwei Grenzen weiter her gekommen und las exklusiv »Topolino«. Karl May war sehr beliebt; zwei von uns verschlangen gemeinsam ein grünes Buch unter einer Decke, wurden aber nicht erwischt, wer weiß, was der aufgeklärte »Erzieher« sonst gedacht hätte.
Religion und Moral. Etwa die Hälfte von uns waren protestantisch, aus dem Norden vielleicht oder Heimatvertriebene, die anderen katholisch. Religiös »nichts« zu sein, das gab’s nicht, und Juden oder Mohammedaner erst recht nicht. Wir kamen aus ganz Westdeutschland, die meisten aus München, ich aus Bozen. Die Protestanten konnten besser singen. Wir Katholiken mussten am Samstagnachmittag im Dorf zum Beichten, jedenfalls sofern man eine »schwere« Sünde hatte. Die Absolution gab Kaplan Huber, der auch den Religionsunterreicht gab.
Eine »schwere« Sünde ist eine »Todsünde«. Stirbt man damit, so geht’s unweigerlich ab in die Hölle, für ewig. Und zur Kommunion gehen durfte man mit so einer Sünde nicht, das wäre eine Entweihung des Sakraments gewesen, schon wieder eine schwere Sünde. Sonntags nicht in die Messe zu gehen, wieder eine Todsünde. Keine Gnade ohne Beichte. Woher die Kirche das alles weiß, frage ich mich noch heute. Ist auch heute noch gültig, siehe den Katechismus auf der Vatikan-Website … . Unten mehr.
Wasserstoffbombentest „Romeo“ am 27. März 1954 auf dem Bikini-Atoll. – Wikipedia |
Dazu kam, dass damals alle jederzeit den plötzlichen Weltuntergang für gut möglich hielten. So knapp nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts der frisch aufkommenden Atombomben war das kein Wunder. Die Russen wurden in Deutschland durch das Fuldatal erwartet. »Wenn Österreich angreift, schicken wir die Passauer Feuerwehr«, war der gängige Witz zur neuen deutschen Wehrhaftigkeit im »kalten Krieg«.
Bei der ungarischen Revolution 1956 griffen zum Glück für den Frieden die Amerikaner nicht ein, wie die Ungarn und andere sich das vorgestellt hatten, von Radio Free Europe verführt. »News« sah man sich – kam man ins Kino – vor dem Hauptfilm schwarzweiß als »Fox tönende Wochenschau« an.
Heute fürchtet keiner mehr den plötzlichen Weltuntergang, höchstens den Klimawandel. Der Weltuntergang ist um etwa 900 Milliarden Jahre hinausgeschoben . Da sind wir längst alle tot und vermutlich schon ausgestorben, oder?
Kommen wir zur katholischen Sexualmoral. Einmal ist in unserem Internat ein ganzes Zimmer, der »Mittelbau Ost« auf der Burg, mit, mein’ ich, sechs Kameraden von der Schule geschmissen worden, weil sie wettonanierten. Ihr Pech war, dass dahinter die Gemächer des Herrn Direktors lagen. Sonst habe ich aber, ehrlich, von nichts Spektakulärem gehört, einfach von nichts. Wir hielten das Thema von Fall zu Fall diskret und persönlich, wenn überhaupt. Es war kein Thema. Mit Mädchen ging schon gar nichts, auf dem Land, isoliert, interniert! Vor der Pille! Wir waren ein reines Bubeninternat. Auch untereinander hatten wir keine Lust, § 175 ließ uns dergleichen fremd und krankhaft erscheinen.
Aber selbst tätig zu werden, ja, das ließ feinste orgiastische Varianten zu. Ich machte lange einsame Radtouren durch die Flussauen der Tiroler Ache, stieg hinauf auf die reichlich vorhandenen und wohlbewachsenen Berge, diskret, oder nutzte nachts mein Schaumstoffkopfkissen mit passendem Loch zwischen dessen beiden Hälften.
Die Nacht von Samstag auf Sonntag war total tabu. Denn eine nächtliche »Befleckung« war definitiv ein Kommunionshindernis, Todsünde in Aktion. Dann musste man am Sonntag vor der Kirche »versehentlich« etwas essen und konnte sich damit ausreden, wobei die Ursache des unwiderstehlichen Sonntagmorgenhungers allen anderen augenzwinkernd klar war. (Kommunion gab’s nur nüchtern, total nüchtern.) War dann erst einmal der Damm gebrochen, waren Folgefolgen von sündhaften Wiederholungen irrelevant, bis zum nächsten Beichten. Moral war schwarz-weiß. Fegfeuer gab’s nur für lässliche Sünden.
Die Sache lag mir schwer im Magen. Bis ich dann meine Abstinenzproblematik klassisch fromm anging. Gott sollte helfen. Ich gelobte, vor Gott und mir, für jede Selbstbefriedigung – die Bezeichnung ist heute gewiss überholt – fünf Mark zu spenden. Fünf Mark! Das war wirklich viel – wo wir doch wöchentlich nur fünfzig Pfennig Taschengeld bekamen, anfangs jedenfalls. Mein »anderer« selige Großvater väterlicherseits, ein herzenslieber protestantischer Priester, Prediger und Buchautor, schickte mir jährlich zu meinem Geburtstag einen Brief mit Segenswünschen und zehn Mark. Ich kannte ihn damals noch nicht persönlich, lebte er doch im fernen Tübingen. Mein »hauptsächlicher« Großvater in Bozen, mütterlicherseits, war wiederum allzu großzügig zu mir und verwöhnte mich. – Eine Tüte Erdnussbutter (in Gläsern gab’s die nicht), die ich schon damals schätzte, kostete eine Mark zehn.
Ich hatte mir also in ganz falscher Einschätzung der Therapiedosierung je Rückfall fünf Mark Spende in die Kirchenkasse festgelegt – und wurde arm damit.
Da habe ich hin- und herüberlegt, ein halbes Jahr lang vielleicht. Selbst Sekundärquellen wie Rückgriffe aufs blaue Postsparbuch waren inzwischen nötig geworden. So ging’s nicht weiter.
Gelübde lassen sich Gott sei Dank, wie ich herausfand, veränderten Bedingungen anpassen. Und gewiss war Gott für eine direktere, heute tät’ man sagen, virtuelle Gabe dankbarer, in the cloud. Ich wandelte die fünf Mark um in fünf Vaterunser und fünf Gegrüßet-seist-du-Marias. Fortan habe ich das dann so gehalten. Es war mühsam und relativ langwierig, dafür preiswert, und der liebe Gott hat nicht gemurrt. Im Himmel gibt’s kein Geld. Von »Don Camillo und Peppone« war er mir seit 1952 mit direkter Ansprache vertraut.
Ich habe das noch lange so gemacht, bis sich mein Leben vom Katholizismus trennte, spätestens als ich protestantisch heiratete, weil katholisch zu heiraten, Konvertieren meiner Frau erforderlich gemacht hätte. (Bei meiner zweiten Ehe – meiner ersten katholischen – war’s genau umgekehrt. Was für eine bodenlose christkatholische Scheinheiligkeit!) So musste ich meine ersten Kinder wie versprochen evangelisch erziehen. Damals bin ich gleich selbst innerlich mit hinübergeschwenkt zur Kirche meiner Frau. Mir Katholiken fiel auf, dass Protestanten keine feste Lehrmeinung haben, und dass Laien predigen dürfen. Dafür hat der Katholizismus als Alleinstellungsmerkmal die Beichte.
Der Katechismus der katholischen Kirche hingegen ist hochpräzise und ellenlang. Der aktuelle stammt scheint’s von 1997, deutsch 2005, und ist etwa siebenhundert Seiten lang. Ich bevorzuge deshalb den Online-Zugriff über https://www.vatican.va/archive/DEU0035/_INDEX.HTM . Das sieht dann dort so aus:
Speziell etwa die Todsünde, wozu in Kapitel 1856 steht: Da die Todsünde in uns das Lebensprinzip, die Liebe, angreift, erfordert sie einen neuen Einsatz der Barmherzigkeit Gottes und eine Bekehrung des Herzens, die normalerweise im Rahmen des Sakramentes der Versöhnung [= Beichte] erfolgt.
Bei der Keuschheit geht’s dann zur Sache. So sagt Kapitel 2339 (https://www.vatican.va/archive/DEU0035/__P8B.HTM#SL_3.2.2.3.2.2339): Die Keuschheit erfordert das Erlernen der Selbstbeherrschung, die eine Erziehung zur menschlichen Freiheit ist. Die Alternative ist klar: Entweder ist der Mensch Herr über seine Triebe und erlangt so den Frieden, oder er wird ihr Knecht und somit unglücklich [Vgl. Sir 1,22. ]. „Die Würde des Menschen erfordert also, daß er in bewußter und freier Wahl handelt, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußeren Zwang. Eine solche Würde erwirbt der Mensch, wenn er sich aus aller Knechtschaft der Leidenschaften befreit und so sein Ziel in freier Wahl des Guten verfolgt und sich die geeigneten Hilfsmittel [doch nicht etwa Pornohefte?fj] wirksam und in schöpferischem Bemühen verschafft“ (GS 17). Eine Anleitung ist gleich mit dabei (2342): Selbstbeherrschung zu erringen, ist eine langwierige Aufgabe. Man darf nie der Meinung sein, man habe sie für immer erworben. Man muß sich in allen Lebenslagen immer wieder neu um sie bemühen [Vgl. Tit 2,1-6.]. In gewissen Lebensabschnitten, in denen sich die Persönlichkeit ausformt, erfordert sie eine besondere Anstrengung, etwa in der Kindheit und im Jugendalter. … Das geht ellenlang so weiter. Die Enthaltsamkeit vor der Ehe (Kapitel 2350) ist selbstverständlich. Praktische Konsequenz bis heute: Angehende katholische Religionslehrer und -lehrerinnen müssen sich besonders daran halten, sonst dürfen sie keinen Religionsunterricht geben. Denn:
Nimmt man die »katholische Überlieferung« als Maßstab, dann muss freilich alles beim Alten bleiben. Mit Überlieferung lässt sich alles erklären, für gestern.
Nimmt man das katholische Leben in seiner heute gelebten Form, dann nicht.
Aus der Bibel kann man meines Erachtens dergleichen auch nicht ableiten. Und vieles andere nicht , etwa die moderne Ablehnung von Sklaventum, das es in biblischen Zeiten selbstverständlich gab, siehe etwa https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/ex21.html#2 oder die Gleichstellung von Frauen. Viele andere Gebote sind wie dieses angreifbar. Sie werden auch nicht mehr gelebt, oder nur sehr selten. Das macht diese starre Kirche institutionell scheinheilig. Dass der Himmel für viele ohne Gott ist, erlebte ich schon an der einstigen Zonengrenze: Auf meinen forsch-bayrischen Gruß »Grüß Gott!« kam von Vopos die Antwort »Wenn’st ihn siehst«.
Die Frage nach dem wichtigsten Gebot (Hervorhebungen von mir) | ||
Mk 12,28 | Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? | |
Mk 12,29 | Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. | |
Mk 12,30 | Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. | |
Mk 12,31 | Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden. |
Für einen bekennenden Kapitalisten wie mich stellt sich auch immer wieder die Frage: Warum ist das Christentum so kommunistisch? Geben Reiche das Geld wirlich »schlechter« aus als z.B. der Staat?
Keusch zu leben ist durchaus möglich, lange Zeiten lang. Sex ist keinesfalls eine biologische Notwendigkeit wie Speis’ und Trank. Jeder Rückfall jedoch, schon jede Beschäftigung der Phantasie mit dem Thema, lässt einen wieder zurückfallen in Gewohnheiten »normalen« Lebens. Sex macht süchtig – und ist gesund wie fast jede körperliche Aktivität.
Ein Zweites: Sex habe ich selten bereut, meist ausgiebig genossen. Meine Untreue lag und liegt in der gedanklichen Beschäftigung mit anderen, »in Gedanken, Worten und Werken«, wie es heißt. Nicht verzeihen kann ich mir, andere enttäuscht zu haben in ihren vertrauensvollen Erwartungen, etwa auf Freundschaft statt auf Drängen, auf Sicherheit statt auf Überraschungen, auf Gelassenheit im Wortsinn.
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Jan-Heiner Tück in der NZZ dazu: https://www.nzz.ch/feuilleton/umgekehrte-pyramide-der-papst-will-weg-vom-zentralismus-ld.1628571 , Zitat: Vor allem die deutsche Kirche hegte Vorbehalte gegen Synoden, in denen die Hierarchie eine Beeinträchtigung der eigenen Autorität erblickte. Und: Die Ausübung bischöflicher Autorität soll durch synodale Verfahren besser abgestützt werden, politische Machtdelegation auf Zeit ist damit aber nicht angestrebt.