14. Januar 2019

Narrativ

Was bitte ist ein »Narrativ«? Es müsste als Eigenschaftswort »erzählerisch« bedeuten, deutsch substantiviert also vielleicht »Story«. Ironisch lese ich Narrativ gleich deutsch als »Narr aktiv«, aber das ist ganz gemein. »Narretei« wäre eine politisch korrektere Assoziation.
   Trotzdem: Wir erzählen uns ja nicht gegenseitig unsere Geschichtsgedanken. Wir reden viel über Politik, meist nur kurz bis zur Erregung, und richtig nachdenken (oder gar vorausdenken) tun wir eher auch nicht.
  Was uns am Sonntag den 13.1.2019 der Kultursoziologe und Leibnitzpreisträger Andreas Reckwitz zu sagen wusste, hier nachzulesen, fand ich dennoch recht anregend.
   Nach meiner Erinnerung hatten wir nach dem Wiederaufbau so um 1960 weltweit enorme Hoffnungen auf die Zukunft. Dann kamen die 68er und staubten unter den Talaren ab, was ich als eher rück- und seitwärtsblickend empfand und nicht zielorientiert in die Zukunft. Nach der Mondlandung am 29. Juni 1961, die noch ein Akt direkter Anstrengung gewesen war (Kennedy 1962: “We chose to go to the moon”), kam kein Ziel mehr, schon gar nicht in Deutschland.
   Pragmatische Politik ja, schnelle Wiedervereinigung beim Zusammenbruch der DDR, »Willkommenskultur«, wenn die Massen schon vor Passau stehen, aber kein klares Ziel – außer »sozialer Gerechtigkeit«, passend zu neuem Neid nach »mimetischer« Theorie (René Girard), für mich ein Hygienefaktor, um auch einmal ein Fremdwort zu platzieren. Keine Vorstellung, wie und was die Gesellschaft sein soll, wie groß (Stadtviertel, Ort, Region, Bundesland, Deutschland, Europa, der Globus?), verbunden in Sprach- und Heimatgruppen oder solidarisch mit allen und jedem, realiter isoliert doch digital verbunden, sozialmedial, national nur beim Sport, doch europäisch bei der Niederlassungsfreiheit – wohlgemerkt wieder eine »Freiheit«, gesellschaftlich ein Geschehen-Lassen und kein aktives Herbeiwünschen oder daran Arbeiten. Politisch korrekt darf man sich nicht einmal mehr Russlanddeutsche und weniger Roma wünschen, man muss sie nur gleichermaßen brav »integrieren«. Was heißt das? Zum Kindergeburtstag mit einladen? Drei Putzfrauen aus Bonn, die dreißig Jahre hier friedlich gelebt hatten, wurden nach einem aufwändigen Gerichtsverfahren mit Dolmetscher und Sachverständigen abgeschoben, im Namen des Volkes. Das liegt mir auf der deutschen Seele.
   Wir wissen nicht, was wir wollen, sind lasch geworden, satt, ziellos und bequem; auch ich. Der Staat ufert aus und murkst (Anis Amri), BER). Sogar Ethik und Moral kommen nicht mehr vor, nicht in der scheinbar immer empathieloser (weniger nächstenliebend) werdenden Gesellschaft, nicht in der Kirche, der leerlaufenden, die nur vom lieben, lieben Gott erzählt als sei’s Bepanthen (Werbeslogan: »Für eine heile Welt«).
   Wobei wir wieder beim Narrativ sind. Wir sind alle zu dick geworden – das wäre mein erster Gedanke zum Erzählen von heute, und wir alle wollen abnehmen. Dagegen sind Ziele wie Digitalisierung, Wissensgesellschaft, Gerechtigkeit und Integration aller: Mumpitz, folgeloses Geschwafel. Schon vor über zehn Jahren hätte ein Ruck durch Deutschland gehen müssen. Doch ruck-zuck waren wir wieder beim alten Schlendrian.
   Und ich schreite jetzt (unsportlich, unwillig, aber brav) zum »betreuten Gerätetraining« und »bin mal weg«.

PS. War gut! Badenweiler, 14.1.2019

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Sonntag, 13.1.2019 17.05 Uhr
Kulturfragen
Debatten und Dokumente
   Kultur, Gesellschaft, Digitalisierung – Der Mensch in der Spätmoderne. Der Kultursoziologe und Leibniz-Preisträger Andreas Reckwitz im Gespräch mit Karin Fischer
https://www.deutschlandfunk.de/programmvorschau.281.de.html?drbm:date=13.01.2019

https://www.deutschlandfunk.de/kulturfragen.910.de.html 
https://www.deutschlandfunk.de/soziologe-andreas-reckwitz-die-krise-des-westens.911.de.html?dram:article_id=438072

In westlichen Gesellschaften hat sich ein Gefühl zunehmender Unsicherheit etabliert. Globalisierung und Digitalisierung werden als Bedrohung empfunden. „Der Glaube an die Fortschrittserzählung ist erschüttert“, sagte der Kultursoziologe Andreas Reckwitz im Dlf. Andreas Reckwitz im Gespräch mit Karin Fischer
   „Das westliche Fortschrittsnarrativ gilt nicht mehr …

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