3. Juni 2016

Die Resolution

31. Mai 2016. Der deutsche Bundestag hat scheint’s nichts anderes zu tun, als Ereignisse vor über hundert Jahren 1915/16 sprachlich einzuordnen, frei nach Goethes Faust: »Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen.« 
   Wenn jetzt der Massenmord an den Armeniern um 1915 vom deutschen Parlament »resolut« zum Völkermord deklariert wird, so wird das keinen Historiker umstimmen, und auch keine Tatsache posthum ändern. Politisch korrekt ist »Völkermord« gewiss; aber haben wir unsere Volksvetreter als Sprachkorrektoren gewählt?  Geschichtslektoren? Mag doch jeder meinen und sagen, wie und was er will. Am besten gar nichts, weil uns das Geschehen längst nicht mehr persönlich in Erinnerung ist. Bundestag, bleib’ bei deinem Leisten!
   Die Türkei, die’s angeht, hat rechtzeitig ihr Missfallen angezeigt, und nannte dann die Resolution lächerlich. Sie ist verärgert. Haben wir das nötig? Muss das sein? Wozu? Wozu jetzt? Nicht jeder Staat lässt sich vorschreiben, wie er was nennen soll. Das sind meines Erachtens unnötige Nadelstiche. 
   Können wir uns nicht um Eigenes kümmern? Vielleicht um die historisch korrekte Einordnung der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa; etwa aus Böhmen und Mähren: »Bevölkerungstransfer« (Beneš), »Bevölkerungsverschiebungen« (Eden)? Mehr dazu siehe Wikipedia z.B. hier. – Ich will das aber nicht vertiefen: Verbrechen lassen sich nicht gegeneinander aufwiegen, sie sollten meines Erachtens auch lieber gnädig vergessen werden, vor allem, wenn es um Schuldzuweisungen geht. Das Argument: »auf dass sich so etwas nie wiederhole« ist schön und gut, aber falsch. Homo homini lupus braucht nicht auf alte Methoden zurückzugreifen. Jede Zeit erfindet ihre Verbrechen selbst.
   Gegen die deutsche Armenier-Resolution gab es nur genau eine Gegenstimme, von der direkt gewählten CDU-Abgeorneten Bettina Kudla aus Sachsen. Sie erklärt das hier so: »Es ist nicht Aufgabe des Deutschen Bundestages, historische Bewertungen von Ereignissen in anderen Staaten vorzunehmen. Die Aufarbeitung von geschichtlichen Ereignissen obliegt dem betroffenen Staat, in diesem Fall der Republik Türkei. Der vorliegende Antrag enthält keine Angaben von Quellen wie z.B. Historikern, auf die sich die Beurteilungen des benannten Völkermordes stützen.« Sie führt dann Risiken an, vor allem des vorschnellen deutschen Schuldbekenntnisses in der Resolution, das ich eher als Anbiederung an die Türken lese nach dem Motto: »Regt euch nicht auf, wir waren ja auch schuld!«
   Zum Schluss: Ich bin kein Revanchist, ich will kein »Rückspiel«, will nicht zurück in die »Heimat, aus der wir vertreiben wurden«. Ich bin glücklich über Aussöhnung und Frieden. Unrecht geschieht schnell, Aussöhnung ist mühsam und dauert lange. Zorn ist jäh, Vergebung langsam, wenn überhaupt. Außerdem habe ich Angst, dass wir hier mit derartigen Einmischungen und dort mit erfolglosen (aber nicht folgelosen!) Embargos wieder einmal Konflikte schüren.

Das Thema in der Schweiz. Stellungnahme des Bundesrates vom 16. August 1985:
   Der Bundesrat verurteilt die tragischen Geschehnisse, welche – nach Massendeportationen und -vernichtungen während den Aufständen und Kriegen am Ende der osmanischen Herrschaft, 1894 bis 1922, insbesondere im Jahre 1915 – den Tod von äusserst vielen Armeniern zur Folge hatten (gemäss Angaben zwischen 800 000 und 1,5 Millionen Menschen).
   Dem Bundesrat wurde im Jahre 1896 eine von 433 080 Schweizer Bürgern unterzeichnete Petition zugunsten von Christen im Osmanischen Reich und 1915 ein von zahlreichen schweizerischen Persönlichkeiten gezeichneter Aufruf zugunsten der Armenier im Osmanischen Reich überreicht.

Die deutsche Resolution:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten des Osmanischen Reichs, die vor über hundert Jahren ihren Anfang nahmen. Er beklagt die Taten der damaligen jungtürkischen Regierung, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich geführt haben. Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch/assyrische und chaldäische Christen von Deportationen und Massakern betroffen. Im Auftrag des damaligen jungtürkischen Regimes begann am 24. April 1915 im osmanischen Konstantinopel die planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über einer Million ethnischer Armenier. Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist. Dabei wissen wir um die Einzigartigkeit des Holocaust, für den Deutschland Schuld und Verantwortung trägt.
Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten und Missionare über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen. Das Gedenken des Deutschen Bundestages ist auch Ausdruck besonderen Respektes vor der wohl ältesten christlichen Nation der Erde.
Der Deutsche Bundestag bekräftigt seinen Beschluss aus dem Jahr 2005 (Drs. 15/5689), der dem Gedenken der Opfer wie auch der historischen Aufarbeitung der Geschehnisse gewidmet war und das Ziel verfolgte, zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beizutragen. Rednerinnen und Redner aller Fraktionen haben am einhundertsten Gedenktag, dem 24. April 2015, bei der Debatte im Deutschen Bundestag und insbesondere der Bundespräsident am Vorabend der Debatte den Völkermord an den Armeniern verurteilt, der Opfer gedacht sowie zur Versöhnung aufgerufen. Das Deutsche Reich trägt eine Mitschuld an den Ereignissen.
Der Bundestag bekennt sich zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands.
Dazu gehört, Türken und Armenier dabei zu unterstützen, über die Gräben der Vergangenheit hinweg nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu suchen. Dieser Versöhnungsprozess ist in den vergangenen Jahren ins Stocken geraten und bedarf dringend neuer Impulse.
Der Deutsche Bundestag ehrt mit seinem Gedenken an die unvorstellbar grausamen Verbrechen nicht nur deren Opfer, sondern auch all diejenigen im Osmanischen Reich und im Deutschen Reich, die sich vor über hundert Jahren unter schwierigen Umständen und gegen den Widerstand ihrer jeweiligen Regierung in vielfältiger Weise für die Rettung von armenischen Frauen, Kindern und Männern eingesetzt haben.
Heute kommt schulischer, universitärer und politischer Bildung in Deutschland die Aufgabe zu, die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert in den Lehrplänen und -materialien aufzugreifen und nachfolgenden Generationen zu vermitteln. Dabei kommt insbesondere den Bundesländern eine wichtige Rolle zu.
Der Deutsche Bundestag ist der Ansicht, dass das Gedenken an die Opfer der Massaker und Vertreibungen der Armenier unter Berücksichtigung der deutschen Rolle einschließlich seiner Vermittlung an Mitbürgerinnen und Mitbürger türkischer und armenischer Herkunft auch einen Beitrag zur Integration und zum friedlichen Miteinander darstellt.
Der Deutsche Bundestag begrüßt die Zunahme von Initiativen und Beiträgen in den Bereichen von Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur auch in der Türkei, welche die Aufarbeitung der Verbrechen an den Armeniern und die Versöhnung zwischen Armeniern und Türken zum Ziel haben.
Der Deutsche Bundestag ermutigt die Bundesregierung weiterhin, dem Gedenken und der Aufarbeitung der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern von 1915 Aufmerksamkeit zu widmen. Auch begrüßt der Deutsche Bundestag jede Initiative, die diesem Anliegen Anschub und Unterstützung zu verleihen.
Die eigene historische Erfahrung Deutschlands zeigt, wie schwierig es für eine Gesellschaft ist, die dunklen Kapitel der eigenen Vergangenheit aufzuarbeiten.
Dennoch ist eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte die wohl wichtigste Grundlage für Versöhnung sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch mit anderen.
Es ist dabei zu unterscheiden zwischen der Schuld der Täter und der Verantwortung der heute Lebenden. Das Gedenken an die Vergangenheit mahnt uns außerdem, wachsam zu bleiben und zu verhindern, dass Hass und Vernichtung immer wieder Menschen und Völker bedrohen.
Der Deutsche Bundestag nimmt die seit 2005 unternommenen Versuche von Vertretern Armeniens und der Türkei wahr, in Fragen des Erinnerns und der Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen aufeinander zuzugehen. Das Verhältnis beider Staaten ist jedoch weiterhin spannungsreich und von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Deutschland sollte Türken und Armenier dabei unterstützen, sich anzunähern. Eine konstruktive Aufarbeitung der Geschichte ist dabei als Basis für eine Verständigung in Gegenwart und Zukunft unerlässlich. Eine Entspannung und Normalisierung der Beziehungen zwischen der Republik Türkei und der Republik Armenien ist auch für die Stabilisierung der Region des Kaukasus wichtig. Deutschland sieht sich dabei im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik aufgrund seiner geschichtlichen Rolle in den deutsch-armenisch-türkischen Beziehungen in einer besonderen Verantwortung.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
  • im Geiste der Debatte des Deutschen Bundestags vom 24. April 2015 zum 100. Jahrestag weiterhin zu einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vertreibung und fast vollständigen Vernichtung der Armenier 1915/1916 sowie der Rolle des Deutschen Reiches beizutragen,
  • die türkische Seite zu ermutigen, sich mit den damaligen Vertreibungen und Massakern offen auseinanderzusetzen, um damit den notwendigen Grundstein zu einer Versöhnung mit dem armenischen Volk zu legen,
  • sich weiterhin dafür einzusetzen, dass zwischen Türken und Armeniern durch die Aufarbeitung von Vergangenheit Annäherung, Versöhnung und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird,
  • weiterhin wissenschaftliche, zivilgesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten in der Türkei und in Armenien zu unterstützen und im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel zu fördern, die dem Austausch und der Annäherung sowie der Aufarbeitung der Geschichte zwischen Türken und Armeniern dienen,
  • eine Aufarbeitung der historischen Ereignisse durch die Türkei und Armenien als ersten Schritt zur Versöhnung und zur längst überfälligen Verbesserung der türkisch-armenischen Beziehungen aktiv zu unterstützen, z.B. durch Stipendien für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Unterstützung zivilgesellschaftlicher Kräfte aus beiden Ländern, die sich für Aufarbeitung und Versöhnung engagieren,
  • türkische und armenische Regierungsvertreter zu ermutigen, den derzeit stagnierenden Normalisierungsprozess der zwischenstaatlichen Beziehungen beider Länder fortzuführen,
  • sich gegenüber der türkischen und der armenischen Regierung für die Ratifizierung der 2009 unterzeichneten Zürcher Protokolle einzusetzen, die eine Kommission zur wissenschaftlichen Untersuchung der Geschichte, die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und die Öffnung der gemeinsamen Grenze vorsehen,
  • dafür einzutreten, dass die in jüngster Zeit begonnene Pflege des armenischen Kulturerbes in der Republik Türkei fortgesetzt und intensiviert wird,
  • im Rahmen finanzieller Möglichkeiten auch weiterhin innerhalb Deutschlands Initiativen und Projekte in Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kultur zu fördern, die eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen von 1915/1916 zum Thema haben.
Berlin, den 31. Mai 2016

Link hierher: http://blogabissl.blogspot.com/2016/06/die-resolution.html  

Übrigens scheinen die Massaker an den Armeniern von 1894 bis 1896 noch kein Völkermord sondern »bloß« Massaker gewesen zu sein; so politisch korrekt ist hier die internationale Wortgebung geworden.

PS. Siehe auch https://blogabissl.blogspot.com/2017/07/volkermorde-wiedergutmachen.html
https://www.nzz.ch/international/verhandlungen-zwischen-berlin-und-windhoek-die-kolonialzeit-holt-deutschland-ein-ld.1306517

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