Erst dachte ich: »orange Papiere«, dachte an die Farbe, wie sie Post-Its gerne haben. Gefehlt: Es geht um dünne Einwickelpapiere von Orangen, »Apfelsinen«, wie der Norddeutsche sagt. Man wickelte die Früchte aus und strich die zarten Hüllen vorsichtig glatt, früher, im Vor-grünen-Punkt-Zeitalter.
Ich hoffe, der Urheber verzeiht mir das Muster links, hier die Quelle mit weiteren schönen Motiven, und hier zu einen 84-jährigen Sammler mit dreitausend so Papierln.
Hanns Zischler zeigt auf seinem Buch »Das Mädchen mit den Orangenpapieren« (112 Seiten, € 16,99, ISBN: 978-3869710969, Galiani Berlin September 2014) eine Orangen-»Zentaurin«, eher eine »Pegaseuse«, fröhlich fliegend mit Flöte, beflügelt von Orangen selbst nur »seconda« qualità:
Zone), wird erzählt, einer Schülerin des Landschulheims Marquartstein wie Hanns Zischler – und ich. Die Internen (nur Buben) und die Externen (auch Mädchen) waren immer in getrennten Klassen, was das Verständnis nicht gefördert hat.
Zischlers zwanzig Erinnerungskapitel blieben mir wenig konkret, aber das soll so sein, das ist ihr Reiz. Es geht um Andeutungen, eben Erinnerungen, fleckerlhaft. So rühmt etwa Roman Halfmann in seiner Kritik für den Hessischen Rundfunk »wie verschwiegen der Autor eine innere Entwicklung nachzuzeichnen in der Lage ist, die wortlos und jeder Sprache entzogen stattfindet.«
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Trotzdem: Darf ich kritisieren, was mir auffiel? Bin so frei.
Da ist zunächst eine unnötig verwirrende Mischung von Klarnamen und Phantasienamen, Marquartstein heißt Marstein (wir nannten’s nur M’stein), die Berge sind teils verfremdet, teils deutlich da, Lehrer mal so, mal so, bis zu Falschschreibungen wie Zmogrovitch (p 75) für Smogrovics, Gott hab’ ihn selig. Warum das? Gut, wer nicht dabei war, den stört’s vielleicht nicht. Ich müsste mal eine Tabelle machen, nichtöffentlich.
Dann das unbayrische Idiom. Das sind dann Kleinigkeiten, die schief liegen. Eine Steinschleuder hieß bei uns nie »Zwille« (p 53). »Schau mal« (p 19), hätt keiner gesagt, möchte ich behaupten, und »Pfoten weg!« (p 61) auch nicht, ein Zugereister vielleicht, »Finger weg!« tät da passen. »Tüten Sie mir das alles schön ein, Frau Gaukler, ich lass es später agholen, habedieehre« (p 9) – Was stimmt da eher nicht? Richtig: die Tüte. Dann die »DDR«, aus der Elsa kommen soll. Die gab’s, wir hatten sie aber damals noch nicht, nicht einmal in Anführungszeichen: Das war für uns nur die »Zone«. Zischler ist Preuße, würde ich diagnostizieren, dazu muss man aber wissen, was in Bayern ein Preuße war und ist, entsprechend knapp ausgesprochen.
Einen alkoholkranken Schuldirektor hatten wir wirklich, da ist’s gut, dass sein Name geändert wurde, und etwas jähzorning war er in der Tat – von ihm hab’ ich im Speisesaal der Burg mit vielleicht dreizehn meine letzte ordentliche Watsche bekommen. Der Mann war aber ein Genie, hat die Schule weitergebracht wie kein anderer. Wir hatten ihn in Deutsch und Philosophie, begnadet! Ihn auf seine »Fahne« zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht (p 37).
Selbst der rührende kriegsversehrte Hausierer (p 66) kommt mir aus einer anderen Zeit vor, aus einer etwas früheren, gleich nach dem Krieg. Schön erzählt ist’s trotzdem.
Überhaupt finde ich, die Sprache schwankt zwischen sehr, sehr schön und kippt gelegentlich zum Kitsch.»Der wasserkopfige Schatten des Ballons gleitet über die Ache und treidelt seine flüchtige Spur über das Schilf längs des Flusses«, sieht mir schön aus (p 85), obwohl vielleicht »wassertröpfig« gemeint war. Aber: »Die winzigen, von Schnee schon überzuckerten Johannisbeeren der Rücklichter tröpfeln ihre Spur auf die Schneedecke, ehe der VW aufheulend in der Nacht verschwindet« (p 109), ist mir doch etwas zu expressionistisch, Kitsch.
Die »Liebesszene«, p 91. Vielleicht ist das wirklich so passiert, dann bitte ich um Entschuldigung. Zart beschrieben ist es ja, aber ganz so schwuppdiwupp lief sowas damals nicht, »fast schmerzlos vereinigen sie sich«, wo’s noch keine Pille und dafür viel katholische Sexualmoral gab. Die Szene hätt’s nicht gebraucht.
Insgesamt ein nettes Buch, schöne Erinnerungen, bissl sehr teuer – und in wenigen Stunden gelesen, außer man kommt ins Träumen (und Bloggen).
Das Kapitel »Der ertrunkene See« (p 30): http://youtu.be/B0fcVjw7muY
Aus einem it. Ebay-Angebot |
Weitere Links:
Orangenpapier von Seite 41, Lyrafrau, Guttadauro, Palermo.
Romano Gardanis Sammlung von »über 22.400 ›incarti‹«, italienisch
Begrenzte Sammlung von »incarti frutta«, »veline«, italienisch.
›Incarti‹ auf Facebook, Nandos Sammlung, Geschichte (it.),
Buchkritik NDR: http://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Hanns-Zischler-Das-Maedchen-mit-den-Orangenpapieren,orangenpapieren102.html
»Hanns Zischlers Erzählung ist ein literarisches Kleinod von enormer erzählerischer Kraft.«
http://www.kiwi-verlag.de/buch/das-maedchen-mit-den-orangenpapieren/978-3-86971-096-9/
SWR: http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/buchkritik/hanns-zischler-das-maedchen-mit-den-orangenpapieren/-/id=658730/did=14483544/nid=658730/cvt6h6/index.html
WDR: http://www.wdr3.de/literatur/dasmaedchenmitdenorangenpapieren100.pdf
»Fred the Frog« (p 38): http://www.Joern.De/tipsn122.htm
Briefmarke zum Tod Stalins, 1953 (Wikipedia). Ich erinnere mich noch, dass wir in der Aula des Schlosses extra einen »Morgenapell« hatten. |
Meine M’stein-Zusammenstellung: http://www.Joern.De/MStein.htm
Der Weg vom Schloss (Schule) zur Burg (Mahlzeiten, Wohnen) vorbei am Nazi-Peter und über den Prügelweg (p 60, Zischler nennt ihn »Knüppelweg«), heute Burgstraße, den Elsa bevorzugte p 58): Bilder ab https://picasaweb.google.com/Fritz.Joern/50JahreAbi#5628366367954541218
Erinnerungen an ein Ehemaligentreffen 2008: http://blogabissl.blogspot.de/2008_06_01_archive.html#Mstein2008
Link hierher: http://blogabissl.blogspot.com/2015/02/das-madchen-mit-den-orangenpapieren.html
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