15. September 2022

»Das Traumcafé einer Pragerin«

– Von Lenka Reinerová, 1983, inzwischen nur mehr antiquarisch zu haben.

Prager Juden mag ich, literarisch. Die Zeit ist aber – wie vielvieles – längst vorbei, das genannte Buch der angeblich letzten deutschschreibenden Erzählerin aus Prag, Jüdin auch, nach der vierten Auflage 2003 ausgelaufen. Antiquarisch war’s um so billiger, weit unter den acht originalen Euro. 270 Seiten, sieben Kurzgeschichten, meinem Gefühl nach ganz unterschiedlicher Qualität. 


Reinerová, auf die ich durch das aus dem Tschechischen übersetzte Buch ihrer Tochter Anna Fodorová »Abschied von meiner Mutter« mit einem guten Nachwort von Jaroslav Rudiš gekommen war, ist weder Reporterin noch Romanschriftstellerin, sie schreibt einfach, ordentlich, einfühlsam, mit Phantasie, weiblich schön – gelegentlich bis zu Kitsch. Liest sich gut, besonders, wenn man wie ich, das Handy dabei hat zur Klärung mancher Begriffe oder Orte, wie etwa ein »Mudr.« auf der Visitenkarte. Ich hätte mir neben all den unaufhaltsamen Gedanken ein paar konkrete Hinweise auf Daten und Zeiten gewünscht – bin halt Techniker, der’s gern genau hat.
   Nun im Einzelnen – nach meinem persönlichen Gefühl – Korrekturen sind willkommen:

»Das Traumcafé einer Pragerin«, 42 Seiten, die Aufmachergeschichte, names dropping. Da stellt Reinerová sich im Himmel ein Kaffeehaus vor mit allen bekannten Prager Nachdenkern drin. So wie ich ans Kusseth zurückdenke. Charmante Idee, gut geschrieben.

 »Der Frühvogel«, 12 Seiten, Reinerová wird aus ihrem Pariser Gefängnis entlassen, Gedanken, Düfte, Phantasien, Jarmila, l’histoire de rire

»Der graue Wölfling«, 12 Seiten, der verfolgt Reinerová im Traum in Casablanca – was mich immer an »Jakobowsky und der Oberst« erinnert.

»Glas und Porzellan«, 44 Seiten, Reinerová kommt aus dem Gefängnis in die tschechische Provinz, sieht endlich ihre Tochter und ihren Mann wieder, bekommt Arbeit und wird zur Chefin der Musterabteilung Glas und Porzellan. Am Schuss findet sie den Mut, bei einer »Gewerkschaftsversammlung des Bezirksbetriebs Handel mit Bedarfsgegenständen für den Haushalt« gegen die Kündigung von »Opa Tichý« zu sprechen. Viel Zustimmung.

»Der Ausflug zum Schwanensee«, 83 Seiten, Reinerová findet auf einer nicht erklärten, mystifizierten Fahrt mit zwei Männern, nouvelle-vague-ähnlich ein Bild ihrer ermordeten kleinen Schwester. Sie erinnert sich an ihr Pariser Gefängnis, La Petite Roquette  und verfolgt dann gedanklich eine grausame Opportunistin, Carmen Maria Mory, die zuletzt im KZ Ravensbrück als »schwarzer Engel des Todes« agierte.

»Unterwegs mit Franz Schubert«, 23 Seiten, ist keine gute Geschichte. Reinerovás verständliches Trauma leitet sie da phantastisch-gedanklich assoziativ in die Irre, zu weit weg. Schon im zweiten Absatz erzählt sie von den »blutroten Fahnen mit dem schwarzen Hakenkreuz in der Mitte« in Deutschland. Als sie diesmal nach dem Krieg im »Eilzug [nicht Schnellzug?] Franz Schubert« von Zürich nach Wien ihr Abteil mit alten SS-Leuten und ähnlichen teilt, da platzt ihr beim Aussteigen doch der Kragen: »Sie sind bei Kriegsende wohl kaum meiner Mutter und meinen Schwestern begegnet. Denen hat ja auch niemand einen Ausweg gezeigt, als sie nach Auschwitz in die Gaskammer gejagt wurden.« – So geht das nicht: Nicht alle SS-Leute waren Verbrecher, und nicht alle Wehrmachtssoldaten Gutmenschen, egal wie sie nach dem Krieg tickten.

»Zweite Landung in Mexiko«, 46 Seiten, die Schlussgeschichte ist wieder versöhnlich, umrahmt von einem Witz über einen Rabbi, der sterbend das Geheimnis seiner Weisheit verrät: »Alles ist anders.«

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