12. Dezember 2017

Dem Papst gefällt das Vaterunser nicht mehr

– soweit der zweizeilige Titel auf der letzten Seite der aktuellen Neuen Zürcher Zeitung; eher etwas reißerisch für ein konservatives Blatt, das sich liberal gibt. Die Online-Version des Artikels ist da schon gemäßigter. In der Tat erzählt da Franziskus (wieder einmal) frei von der Leber weg Unsinniges. Die Übersetzung ist astrein. Einen Anstoß zur Diskussion hat er dennoch gegeben. Schon gibts in der NZZ einen weiteren Artikel zum Thema, diesmal als »Kommentar«. – Und diesen meinen Blogeintrag …  
   Um was geht’s?
   Es geht um den vorletzen (oder letzten) Satz im Vaterunser: »Und führe uns nicht in Versuchung

Aus dem Schott
»Es sei nicht Gott, der den Menschen in Versuchung stürze, um zu sehen, wie er falle. ›Ein Vater tut so etwas nicht: Ein Vater hilft, sofort wieder aufzustehen. Wer dich in Versuchung führt, ist Satan‹, sagte Franziskus dem Sender laut Radio Vatikan.« – Zitat NZZ. Und hier im Original:



Richtig findet man bei Radio Vatikan im Blog unter »Wer führt in Versuchung?« Ausführliches, bis hin zum griechischen Original – http://blog.radiovatikan.de/mehr-als-nur-worte/ 
   Ich selbst habe die Versuchung nie als eine Schlucht gesehen, in die einen der Herrgott als Bergführer hineinführen täte oder nicht. Er führt ja leider eher überhaupt nicht, und lässt dem Menschen die Freiheit zu sündigen. »Lass’ uns nicht in Versuchung kommen«, so verstehe ich das – wie einen Stoßseufzer oder eben ein Stoßgebet, von dem man ja nie weiß, ob es wirkt. Man bittet halt darum.
   
Was ich mich immer gefragt habe, ist, ob »Denn dein ist das Reich usw.« wirklich dazugehört, weil uns doch der Herr schwerlich gelehrt haben kann, ihn derart zu bauchpinseln. Wörtlich sagt dazu die gewöhnlich gut unterrichtete Wikipedia, hochgestochen wie so oft: 
   »Nur die matthäische Version beschließt die Bittenreihe mit einer Doxologie (›rühmendes Wort‹), die auf die Anfangsbitte um das Kommen des Reiches Gottes zurückkommt und die vor­aus­ge­gan­ge­ne Zusage Gottes im Munde Jesu gleichsam appellativ an Gott zurückgibt: ›Denn dein ist das Reich …‹ Dieser Schluss ist allerdings in den ältesten Handschriften nicht überliefert, fehlte somit vermutlich im ursprünglichen Matthäusevangelium.« 
   Zum Thema:
Hiobs Schweigen http://j.mp/2CyQLSV =
https://www.nzz.ch/feuilleton/hiobs-schweigen-ld.1343521
Nicht Gott, der Teufel versucht den Menschen, sagt der Papst. Doch in der Versuchung des gottesfürchtigen Menschen liegt das tiefste Paradox des Christentums. 


Permalink:
 https://blogabissl.blogspot.com/2017/12/dem-papst-gefallt-das-vaterunser-nicht.html 

Links:
• Deutschlandfunk 2010
• Ebenfalls zum Thema Übersetzung aus der Bibel:
«pro multis»: http://blogabissl.blogspot.com/2009/03/pro-multis-fur-viele-so-stand-das-fast.html 
   Da pfeifen die Pfarrer auf die Bibel …

Ergänzungen
   Ein befreundeter Theologe, kenntnisreich wie wenige, gab mir vielfältige Präzisierungen und vor allem den Hinweis auf einen Jakobusbrief. Für mich sind Bibelstellen einfach »je später desto besser«, aktueller sozusagen. Ich ziehe das vor. Mein Freund schreibt mir:

Hintergrund bzw. Referenzstelle der Diskussion ist aber auch eine andere Passage, nämlich aus dem Jakobusbrief:
   „13 Μηδεὶς πειραζόμενος λεγέτω ὅτι ἀπὸ θεοῦ πειράζομαι· ὁ γὰρ θεὸς ἀπείραστός ἐστιν κακῶν, πειράζει δὲ αὐτὸς οὐδένα. 14 ἕκαστος δὲ πειράζεται ὑπὸ τῆς ἰδίας ἐπιθυμίας ἐξελκόμενος καὶ δελεαζόμενος·“ (Jakobus 1,13-14)

[13 Niemand, der versucht wird, soll sagen: „Ich werde von Gott versucht“. Gott nämlich kann nicht vom Schlechten versucht werden; er selbst aber versucht niemanden.

14 Jeder aber wird versucht, indem er von seiner eigenen Begierde mitgerissen und geködert wird.]

   Hier wird ein anderer Akzent gesetzt, der weder Gott noch den Teufel für Versuchungen verantwortlich macht. Die „eigene Begierde“ (griechisch: epithymia) wird dort als Teil der menschlichen Existenz beschrieben und macht so etwas aus wie eine grundsätzliche Versuchbarkeit, die allerdings vom Ich des Menschen unterschieden wird und werden muss. Erst wenn dieser Begierde gefolgt wird, welche (so sinngemäß die griechische Vokabel) „in den Hedonismus“ verführt, dann wird daraus Sünde (so das Konzept des Jakobusbriefes).
Selbst im Alten Testament im Buch Hiob (Ijob) ist es nicht Gott, der verführt. Zu Versuchszwecken erlaubt er dem Teufel, Hiob in Bedrängnis zu führen. Este einmal allein durch Armut.
Ijob 1,12 Der Herr sprach zum Satan: Gut, all sein Besitz ist in deiner Hand, nur gegen ihn selbst streck deine Hand nicht aus! Darauf ging der Satan weg vom Angesicht des Herrn.
Hiob bleibt standhaft in seinem Glauben:
Ijob 1,22 Bei alldem sündigte Ijob nicht und äußerte nichts Ungehöriges gegen Gott.

In einer zweiten Runde darf der Teufel Hiobs Gesundheit angreifen. Hiob bleibt auch da Gott treu. Er flucht noch nicht einmal seiner »mit Worten«, er hadert nicht mit ihm, was man ihm schon jetzt nicht hätte verdenken können. Seine Frau findet’s unverständlich.
Ijob 2,10 Er aber sprach zu ihr: Wie eine Törin redet, so redest du. Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen? Bei all dem sündigte Ijob nicht mit seinen Lippen.
Als ihm mitleidige Freunde sein Leid vor Augen führen, verflucht Hiob seine Tage – nicht aber Gott – und wünscht sich sogar den Tod.
Ijob 6,11 Was ist meine Kraft, dass ich aushalten könnte, / wann kommt mein Ende, dass ich mich gedulde?
Es folgt weiter langes, detailliertes Wehklagen. Zwischendurch geht es auch um die Taten Gottes:
Ijob 12,9 Wer wüsste nicht bei alledem, / dass die Hand des Herrn dies gemacht hat?
Ijob 12,10 In seiner Hand ruht die Seele allen Lebens / und jeden Menschenleibes Geist.
Doch bald einmal ist Hiob dss Palavers leid:
Ijob 13,5 Dass ihr endlich schweigen wolltet; / das würde Weisheit für euch sein.
Schließlich klagt Hiob doch über Gottes Zorn gegen ihn:
Ijob 19,11 Sein Zorn ist gegen mich entbrannt, / gleich seinen Gegnern gelte ich ihm.
Hiobs Hoffnung stirbt aber nie:
Ijob 19,25 Doch ich, ich weiß: mein Erlöser lebt, / als Letzter erhebt er sich über dem Staub.
Ijob 19,26 Ohne meine Haut, die so zerfetzte, / und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen.
Ijob 19,27 Ihn selber werde ich dann für mich schauen; / meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd. / Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.
Leider aber schweigt Gott (wie auch heute). Hiob beklagt sich:
Ijob 31,35 Gäbe es doch einen, der mich hört. / Das ist mein Begehr, dass der Allmächtige mir Antwort gibt: / Hier ist das Schriftstück, das mein Gegner geschrieben.


Noch lange geht es hin, bis Hiob beim Herrn wieder Glück und Gnade findet. Bezeichnend ist, meine ich, dass der Auslöser Nächstenliebe ist!
Ijob 42,10 Der Herr wendete das Geschick Ijobs, als er für seinen Nächsten Fürbitte einlegte; und der Herr mehrte den Besitz Ijobs auf das Doppelte.
Das Happy-End:
Ijob 42,17 Dann starb Ijob, hochbetagt und satt an Lebenstagen.

Nun weiter in den Anmerkungen meines Freundes:
1) Der Wortbefund: Matthäus und Lukas haben die Bitte genau gleich (fettgedruckt und unterstrichen von mir) >
13 καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν,
ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ.“ (Matthäus 6,13; in Lukas 11,4b steht ebenfalls wortgleich wie bei Matthäus καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν.“
[13 Und führe uns nicht hinein in die Versuchung/Prüfung/Probe, sondern rette uns von dem Bösen.]
   Meine Übersetzung macht hoffentlich deutlich: Subjekt ist offenkundig der Vater, an den diese Bitte gerichtet wird. Das Prädikat meint so viel wie hinein-führen, hinein-tragen, hinein-bringen und „εἰς“ ist quasi richtungsweisend: Eine Präposition, welche die Richtung angibt. „peirasmos“ (das letzte Wort des Satzes) hat nun die Bandbreite von Versuchung, Probe, Prüfung – jedenfalls das gleiche Wort, das auch Jesus betrifft, der nach der Taufe in der Wüste vom Teufel versucht wird (Lukas 4,2 bzw. Matthäus 4,1) - allerdings führte der Geist Jesus in die Wüste, wie Matthäus 4,1 steht (vergleichbar Lukas 4,1).
   Zwei Aspekte sind mir hier wichtig:
• Was sagt das über den Menschen? Mit der Formulierung eines Kollegen gesprochen: „Da der Mensch aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, solchen Anfechtungen zu widerstehen, lautet die abschließende Bitte, Gott möge verhindern, daß der Mensch hilf- und schutzlos der Versuchung und dem Bösen ausgeliefert werde.“
• Was sagst das über Gott? Gott ist offenbar in der Lage dazu, sprich: zu der „Versuchungsprävention“. Wir sagen mit der Bitte im Grunde etwas über uns aus, über unsere Versuchbarkeit und die Abhängigkeit von Gott. Das christliche Gottesbild damit zu entschärfen, dass an der Stelle glattgebügelt wird, fände ich in vielfacher Hinsicht problematisch, was ich hier aber nicht weiter ausführe. Nehmen wir aber nur analog ein alttestamentliches Beispiel:

Ich bin der HERR und sonst keiner. Außer mir gibt es keinen Gott. Ich gürte dich, ohne dass du mich erkannt hast,
damit man erkennt vom Aufgang der Sonne und von ihrem Untergang her, dass es außer mir gar keinen gibt. Ich bin der HERR - und sonst keiner -,
der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Frieden wirkt und das Unheil schafft. Ich, der HERR, bin es, der das alles wirkt.“ (Jesaja 45,5-7)

Ich habe die Versuchung nie als eine Schlucht gesehen, in die einen der Herrgott als Bergführer hineinführen täte oder nicht. Er führt ja leider eher überhaupt nicht, und lässt dem Menschen die Freiheit zu sündigen.. »Lass’ uns nicht in Versuchung kommen«, so verstehe ich das – wie einen Stoßseufzer oder eben ein Stoßgebet [...]“ (Fritz Jörn) trifft es daher mit Stoßgebet ganz gut: Im Bewusstsein der eigenen Handlungsfreiheit, der väterlichen Barmherzigkeit sowie seiner Bewahrungsmacht angesichts unserer eigenen Versuchungen – bzw. der letzten finalen Versuchung, welche biblisch „die große Bedrängnis" heißt – bitten wir. Bitten, da wir wissen, dass wir Hilfe brauchen, und bitten an den, der helfen kann.

Oben habe ich vor allem erläutert, warum philologisch und theologisch an der Stelle gerade gute Argumente existieren, die Bitte im Vater-Unser so zu belassen.
 
Zwei sprachliche Beobachtungen aus dem Deutschen bzw. dem Französischen/Spanischen (s. Papst aus Argentinien!) könnten aber einen recht banalen Grund für diese – m.E. überflüssige – Debatte liefern:
1. „Und führe uns nicht in Versuchung“ ist im Deutschen doppelcodiert, sprich: Wir hören a) „Führe uns nicht in Versuchung hinein...“ oder/und b) „Versuche uns nicht“, denn „in Versuchung führen“ kann im Grunde in unserer Sprache dreifach verstanden werden: 
i. In der / Durch die Versuchung führen; 
ii. In die Versuchung hinein führen; 
iii. versuchen (so wie wir sagen „Führ’ mich nicht in Versuchung!“ = „Versuche mich nicht!“). 
   Vor dem Hintergrund klärt sich auch die Frage, ob Gott nun versucht oder nicht (was ja Franziskus’ wichtiger Punkt ist): Bei richtiger Übersetzung der Vater-Unser-Bitte (Führe uns nicht in Versuchung [hinein]) – Griechisch mit doppelter Richtungsangabe um den „Hinein-Faktor“
so klar wie möglich gemacht – stellt sich die Frage gar nicht mehr, ob Gott versucht oder nicht, sondern die Bitte impliziert „nur“, dass Gott (vgl. Jesu Versuchung durch den Teufel in der Wüste, in die aber wiederum der Geist ihn führte!) ggf. in die Versuchung hineinführt. Wir beten zwar „dagegen“, und es scheint nach Gottes Willen und dem Gebet Jesu auch das Ziel zu sein, dass wir nicht in Versuchung hineingeführt werden; dennoch sagt diese Bitte gerade nicht aus, dass Gott versucht, sondern „der Versucher“ ist deutlich der Teufel (so wiederum nach der Erfahrung Jesu in der Wüste). Nichtsdestotrotz bleibt der Punkt mit Jakobus 1 bestehen, dass „die Begierde“ auch lockt und mitreißt – die Lage ist und bleibt komplex.
2. Französisch wie Spanisch steht sinngemäß in der Vater-Unser-Bitte: „Lass uns nicht in Versuchung fallen“. Daher m.E. der „Trubel“, denn „dass Gott uns fallen lässt“ ist auch wiederum mehrfach konnotiert. Wir kennen das auch im Deutschen: Wenn ich „in Versuchung falle“, dann _gerate_ ich in Versuchung; wenn ich aber „in Versuchung falle“, dann bin ich bereits in der Versuchung und scheitere, sündige, versage, etc. – Daher kann ich der päpstlichen Sicht noch etwas abgewinnen in gewisser Hinsicht, aber eigentlich ist sie philologisch fragwürdig (zumal die Bitte im Lateinischen analog zum Griechischen funktioniert – Gleiches gilt für das Italienische) und nach wie vor theologisch nicht so komplex, wie sie m.E. sein sollte bzw. von biblischer Basis ausgehend sein könnte.

Wie sagte ein Kollege aus der Philologie so treffend: „Der Papst könnte höchstens sagen, dass ihm dieses Gebet nicht mehr so gefällt, aber nicht, dass es eine schlechte Übersetzung ist.“ – Trotzdem ist für mich am Ende des Tages das Problem am einfachsten damit gelöst, dass „in Versuchung führen“ griechisch wie lateinisch mit Richtungsangaben grammatikalisch klar markiert ist, so dass klar ist: Nach den biblischen Vater-Unser-Fassungen führt Gott zwar (wenn es denn dazu überhaupt kommt, dass er in Versuchungen hinein führt) in die entsprechenden Versuchungen hinein – wir hoffen und beten, dass nicht! – , aber keinesfalls wird ER selbst zum Versucher, sprich: Teufel+Satan, der dem Menschen gegenübertritt, um ihn fallen und scheitern zu sehen. So macht ein Wort (z.B. „hinein“ [in: „Führe uns nicht in Versuchung hinein...“] manchmal erhebliche Unterschiede. 

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