3. April 2017

Achill

Von der »Archillesferse« hatte ich schon gehört. Bei näherem Hinsehen stellte sich die allerdings ohne r dar, jedenfalls was Achilles anbetrifft. Mir ging’s da wie mit dem Wort Pogrom, das ich auch mit einem r zuviel im Kopf hatte, als sei’s ein Pro-Grom. Das war bei der Wortwandlung von Reichskristallnacht zu Pogromnacht und inzwischen zu »Novemberpogromen 1938«. Nun, Achill bleibt Achill, es ist zu hoffen. Der wird höchstens modisch-modern zu »Achilleus«, sprich Achillois, nicht Achille-us. 
   Kurz, bei meiner Beschäftigung mit Britting fiel mit sein Gedicht »Was hat, Achill … « auf, hochgerühmt, eines seiner bekanntesten. »Entstanden ist es im Jahr 1938«, merkte wohl seine Witwe an, erstmals veröffentlicht wurde es 1940. »Eine Sprachkraft unerhört; gehört zum schönsten, was es überhaupt gibt. so was macht ihm keiner nach. Auch Goethe nicht.«  – Ich meine, das hat nicht Britting selbst gesagt, im Eigenlob, wie Wolfgang Schneider in der Frankfurter Anthologie meint, sondern Max Kommerell über die Penthesilea (1808) von Kleist (1777–1811). 
   Nach dem Krieg schrieb Gottfried Benn (1886–1956) an Britting:  »Lieber Herr Britting, ich muß Ihnen gestehn, daß ich eben in der neuen Anthologie von Jancke zum ersten Mal in meinem Leben Ihr Gedicht: ›Was hat, Achill‹ gelesen und kennengelernt habe. Ich kann diese Lesung nicht hinnehmen, ohne Ihnen zu sagen, daß das ein wahrhaft großartiges Gedicht ist, einfach hinreißend.«
   Genug des Lobes. Ich verstand es einfach nicht. 
   Natürlich muss man die tragische Liebesgeschichte kennen. Achill tötet Penthesilea im Kampf. In seinem Sieg und ihrem Sterben jedoch verlieben sich die beiden. Das Interent ist voll von Bildern dieses Geschehens, man sehe nur her
   Die Story, dass sich Amazonen die rechte Brust zum besseren Bogenschießen masektomierten, ist übrigens Unsinn. Sie trugen höchstens enge Brustpanzer als Sport-BHs. 

Hier Brittings Gedicht, und da lese ich es vor:




        Was hat, Achill … ?
    
        Unbehelmt,
        Voran der Hundemeute,
        Über das kahle Vorgebirge her
        Auf ihrem Rappen eine,
        Den Köcher an der bleichen Mädchenhüfte.

        Ein Falke kreist im blauen, großen,
        Unermeßlich blauen,
        Großen Himmel.

        Er wird niederstoßen,
        Die harten Krallen und den krummen Schnabel
        Im Blut zu tränken, dem purpurnen Saft,
        An dem das Falkenvolk sich wild berauscht.

        Die nackte Brust der Reiterin.
        Ihr glühend Aug.
        Die Tigerhunde.
        Der Rappe, goldgezügelt.
        Sie hält ihn an.

        Mit allem Licht
        Tritt aus den Wäldern vor
        Der Mann der Männer.
        Die Tonnenbrust.
        Auf starkem Hals das apfelkleine Haupt.

        Er sieht die Reiterin.
        Und sie sieht ihn.
        So stehn sich zwei Gewitter still
        Am Morgen- und am Abendhimmel gegenüber.

        Der Falke schwankt betrunken auf der Beute.
        Was hat, Achill,
        Dein Herz?
        Was auch sein Schlag bedeute:
        Heb auf den Schild aus Erz!

Das Gedicht haben andere vor mir viel besser ausgelegt, und vor allem besser »aufgesagt«. Mir war nur aufgefallen, dass der eigentliche Kampf ausgespart bleibt – sodass ich schon suchen musste danach –, dass die Geschichte von oben herab, von den Falken her gesehen wird, und selbst da ist sie blutrünstig genug, gruselig. Und eigentlich hat sie, anders als andere, ordentliche Geschichten und Gedichte, keine rechte Überschrift. Britting zitiert dafür eine Zeile aus dem Gedicht; ein Titel ist das nicht, wie sonst als Zusammenfassung, mindestens zur Einführung ins Geschehen. Mündlich nennt’s Britting »mein Penthesilea-Gedicht«, kolportiert Schirnding hier (Quelle Seite 418). Britting will nicht dran. Es ist nicht der Kampf, es ist das Herz, worum es geht, und auch das nur diskret.
   Was bedeuten denn zum Beispiel die Gewitter, die sich am Morgen- und am Abendhimmel gegenüberstehen? »Deuten Sie mir das, Schöler!«.
   Heinz Piontek, »Naturlyriker« auch er, deutet es 1952 so (Quelle Seite 12): »Das urkräftige Gedicht ›Was hat, Achill ... ‹ gibt uns den Menschen gleichsam unverkürzt, wild und primitiv, wuchtig aufgereckt über den blassen Horizonten unserer verkümmerten Welt. Die Begegnung zwischen Mann und Weib vollzieht sich wie ein gewaltiges Naturereignis: ›So stehn sich zwei Gewitter still / Am Morgen- und am Abendhimmel gegenüber ... ‹. Und hinter der Frage ›Was hat, Achill, dein Herz?‹ spüren wir eine Bewegung, die alles Lebendige zutiefst erfasst und erschüttert, eine Bewegung, die nur von der vollendeten poetischen Vision auszugehen vermag: wir spüren die Identität von Wort und Wahrheit.« 
   Nun denn, das »gewaltige Naturereignis« zwischen Mann und Frau bleibt »still«, hält inne, unbewegt? Danach stelle ich mir den Kampf vor, Penelope schlank am stillstehenden Pferd, mit Pfeil und Bogen aber für den Nahkampf falsch ausgerüstet, Achill riesig. Wuchtig trifft sein Speer und tötet. Erkennen, Bedauern, das Herzklopfen, die kommen später. Gefühle, nach Goethe. – 
   Albert von Schirnding meint hier (Original Seite 418) allerdings, dass Britting wie Kleist erst einmal umgekehrt Penthesilea Achill besiegen lässt, und sie sich noch vorher verlieben. Und etwas mehr von Kleist übernommen haben soll Britting auch, etwa das Waldherausgetrete. Überhaupt hat sie Schirnding gut verglichen und ausführlich weitergedacht; er ist’s Wert, bis zu Ende gelesen zu werden. Er kennt Britting vielleicht am besten! 
   Auch Hans-Egon Holthusen verlegt 1977 die Liebe vor, hier (Original Seite 191). Mögen sie alle recht haben; ich versteh’s desto weniger.  
   Verstehen kann das heute trotzdem keiner mehr. Kennen wir den üblichen Penthesilea-Mythos, so längst noch nicht antimateriell die umgepolte Variante. Von Kleist liest man, wenn überhaupt, höchstens anderes. Wir leben in einer Zeit vieler Worte, da sind uns schon Gedichte zu knapp, verschlüsselte ganz unverständlich.
   Curt Hohoff deutet 1967, weit ausholend, hier (Quelle Seite 164):
»Britting wollte das dichterisch Wahre treffen. Die Figuren des Hamletromans, des ›Eglseder‹ und vieler großer Erzählungen sind differenzierte Personen. Im Denken und Fühlen sind sie zwiespältig, im Handeln zögernd und abwartend – oder sie handeln vorschnell, gewalttätig und überraschend. Analytisch sind sie schwer zu fassen, aber die dichterische Wahrheit ist eindeutig und einleuchtend. Sie leben, wie Brittings Pflanzen und Tiere, in symbolischen Bezügen aufeinander, und hier geht es dann oft mehr wie im Märchen als im Alltag zu: Brittings Tiere werden aus den zoologischen Bedingungen gelöst und in groteske Bildzusammenhänge gestellt, der Hecht wird ein Drache der
Vorzeit. In den Erzählgedichten erscheint der Mensch mit ironischen Strichen:
   Mit allem Licht
   Tritt aus den Wäldern vor
   Der Mann der Männer.
   Die Tonnenbrust.
   Auf starkem Hals das apfelkleine Haupt.
Darin kommt etwas von der Rätselhaftigkeit des Lebens zum Ausdruck; im Bild ist es da, denn ›kein Bild ist Betrug‹. Die Grenze wird jeweils im Tod erreicht, wo der Mensch verlorengeht und geborgen wird, wo dem Entsetzen des Ertrinkenden das Vorgefühl einer heiteren Ruhe entspricht. Der Tod gehört zur Natur wie die Nacht zum Tag.«

   Hier schreibt Curt Hohoff 1954 (Quelle Seite 136): »Nur was auf der Erde mit dem Menschen geschieht, kann der Dichter – als Dichter – sagen, indem er sesshaft-sinnlich symbolisiert. Auch Achill ist solch eine Symbolfigur, der tonnenbrüstige Held mit dem apfel-kleinen Haupt tritt der Amazone gegenüber. In ›Was hat, Achill ... ‹ ist die odische Begrenzung aufgegeben, aber die Errungenschaften der Gattung sind darin als Notizen, so wie K. Weiß plötzlich in seine christliche Welt Aktäon einführt [Konrad Weiß, Aktäon, 1925. fj]. Der Wert wird wie im arabischen Ziffernsystem [unserem!] nach der Stelle, wo die Zahl steht, bestimmt. So auch bei Achill. Der Dichter fragt:
   Was hat, Achill,
   Dein Herz?
   Was auch sein Schlag bedeute:
   Heb auf den Schild aus Erz!
Die ›Bedeutung‹ wissen wir nicht, aber wir wissen, dass die Auseinandersetzung notwendig ist. Wie man diese Auffassung historisch begründet, ob mit stoischer Indifferenz, ob mit augustinischer ›Unruhig-ist-mein-Herz‹-Klage, geht den Dichter nichts an. Die Beschränkung erst macht den Schrecken, Menschengefühl vor dem Furchtbaren seit je, zu mehr als Laut – zu Dichtung.« Soweit Hohoff, für uns Heutige reichlich nebulös.

   Zum Schluss hat Achill dann etwas am Herzen, wie jemand, der sich ans Herz greift, vezweifelt vielleicht, erschrocken, liebesübermannt, nur kurz angedeutet. Britting empfiehlt ihm, seinen Schild aufzuheben, als ob der ihn noch schützen könnte, vor langem, kommendem Leid und Sehnsucht.
   Dass bei Britting Achill so kräftig-männlich ausfällt, wie ein Bodybuilder, gibt der Geschichte zusätzlich Kraft und fast ein wenig Humor: »Ein Leser des Gedichts hatte Britting eine Karikatur des breitbrüstigen Achill mit winzigem Kopf geschickt. Am 21. März 1949 schrieb Britting an Georg Jung (1901–1988), ihm die Zeichnung beilegend: »auf die ironie mit dem apfelkleinen haupt kann ich nicht verzichten; es stießen sich schon viele dran.« – Britting, selbst groß und kräftig, konnte wegen seiner Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg seine Rechte nicht mehr benützen und behalf sich deshalb auf der Schreibmaschine mit Kleinschrift.

Übrigens ist die »Rezeption« Brittings eher spärlich. Wir haben jetzt April 2016; seit drei Jahren steht die »Frankfurter Anthologie« im Netz, erst zehnmal »empfohlen«. »Warum ist dieser Dichter, warum ist Georg Britting vergessen?«, fragt sich zurecht dort Wolfgang Schneider. Der nur eineinhalb Minuten lange Vortrag von Thomas Huber wurde bloß 41 Mal anfgerufen, ob ganz gehört, weiß ich nicht.

Link hierher: 
http://blogabissl.blogspot.com/2017/04/achill.html
Nächste Britting-G’schichte:
http://blogabissl.blogspot.com/2017/04/brittings-kleine-welt-in-bayern.html

• Ausführliche Interpretation von Albert von Schirnding
Interpretation von Wolfgang Schneider, FAZ  
ungarisch
Über Britting
• Britting-Homepage www.Britting.De
• Ganz gegen (politische?) Interpretationen ist Heinz Piontek u.a.

 
Weitere Links:
Kleists Penthesilea, das Ende gelesen von Caroline Intrup
• Killy, Literaturlexikon 
• »An dem 1938 entstandenen Gedicht ›Was hat, Achill‹ von Georg Britting wird in der Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie ein besonderes Michaels-Motiv als zeitgenössisches Ereignis gezeigt. Ein Schild aus michaelischen Erz muss das Herz schützen, denn ›die Herzen werden Gedanken haben‹.« Quelle Seite 5, vorletzter Absatz (Quelle nicht OCR-gelesen, also nicht Computer-durchsuchbar)

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