5. September 2010

Geschichte sollte erst erkannt werden,
und nicht gleich gewertet.

Heute früh zur besten Sonntagsvormittagszeit habe ich ein »Essay« im Deutschlandfunk gehört: »Kolonialkriege - Im Herzen der Finsternis« von Stephan Malinowski. Hochinteressant und ungemein faktenreich, zum Teil ein wenig sehr gehoben (»Bei den europäischen Kolonialkriegen nach 1945 handelt es sich zudem um Phänomene der Ungleichzeitigkeit«) und halt leider durchgehend moralingetüncht. Grausamkeiten und Kriege hat die Welt genug gesehen, und verwerflich sind sie alle, damals wie heute. Das ist selbstverständlich. Will man allerdings eine Zeit verstehen, dann sollte man sie nicht mit den Augen unserer heutigen – im übrigen recht dünnen – Moralvorstellungen ansehen. Dieser Farbstich mag nach fünfzig Jahren Friede hierzulande populär sein, ich finde ihn aber unangemessen. Ein Zeitalter, das sich außer »sozialer Gerechtigkeit« wenig Gedanken darum macht, was »sich gehört« und was nicht, das nur immer wieder neue oberflächliche Bezeichnungen für »afrikanische Amerikaner« erfindet (für Juden übrigens nicht), sollte seine gerade gängigen Ansichten nicht mit alten Fakten vermischen.


Ansichtskarte aus dem Ersten Weltkrieg: »Kriegsgefangene Turkos u. Zuaven«

Ich hole etwas aus, persönlich. Ich bin bei meinem Großvater aufgewachsen, einem Mann, noch geprägt vom ausgehenden 19. Jahrhundert (seine Memoiren hier). Er hat mir erzählt, wie er in Wien Schwarze im Zirkus ausgestellt gesehen hat. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Dass ich selbst eine Frau »ohne Unterleib« gegen ein paar Lire im Panoptikum erlebt habe, wird mir allerdings auch niemand glauben. Die Leute hatten damals eine andere Vorstellung von der Welt. Mein Großvater hatte sich ähnlich empört darüber gezeigt, dass im ersten Weltkrieg in Europa Zuaven eingesetzt worden waren wie Giftgas. Afrikaner schätzte er nicht aus »rassischen« Gründen gering, sondern betonte immer nur, sie hätten keine Schrift entwickelt, und seien deshalb kulturell nicht so weit gediehen. Ich selbst war von Anfang Januar bis Anfang März 1959 in einem englischen Internat ausgetauscht – voll in der Tradition der Kolonien, aus denen die »höheren Kinder« zurück nach England zur Bildung geschickt wurden. Weil sich deren Eltern auf eine lange Zeit in der Kolonie eingerichtet hatten. Vergangene Traditionen, vergessene Gefühle, verdrängtes Denken.

In der Neuen Zürcher Zeitung erschien am 4. September 2010 der Meinungsartikel von Redaktionsmitglied Anton Christen »Warum Schwarzafrika keine Entwicklungssprünge macht«. Das beste an diesem nachdenklichen Artikel ist, dass das Christen auch nicht weiß. »Erfinder und Neuerer haben in afrikanischen Gesellschaften einen schweren Stand«, schreibt er, spricht von »einem Mangel an Gemeinschaftssinn«, von einer traditionellen vorwissenschaftlich-magischen Wirklichkeitsauffassung, schließt aber ohne Resümee.

Der Deutschlandfunk-Vortrag ist durchtränkt von negativen Bewertungen (»das europäische Wüten im nicht-europäischen Raum«) und von einem entsprechenden demütigen Bedauern, das erst dadurch möglich wird, dass man sich selbst als den damals Schuldigen vorstellt. Wir sind nicht die Europäer des 20. Jahrhunderts, schon gar nicht »die Deutschen«, »die Italiener«, Belgier, Engländer oder Franzosen, die in Afrika gekämpft haben, in Abessinien oder Algerien. Wir können uns eine Zeit voller Kriege nicht mehr vorstellen. Der kirchliche Friedensgruß ist uns bloß peinlich. Ich glaube, wir können nicht einmal erklären, warum »wir« in Kundus steckengebliebene Tanklastzüge in die Luft jagen statt den ADAC hinzuschicken. Lasst uns erst einmal das deuten, gerne auch moralisch, bevor wir über vergangene Jahrhunderte richten oder uns für sie entschuldigen. Aber vielleicht habe ich – überempfindlich gegen »Schönsprech« – dieses moralische Bewerten samt passendem Schuldbekenntnis nur hineingehört?

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