9. September 2016

Demokratie undemokratisch

Große Dinge, kleine Dinge, mich regt eine Menge auf. Mit steigendem Alter und mehr Erlebtem kommt Frust dazu, nichts dagegen tun zu können. 
   Dabei haben wir uns das alles selbst eingebrockt; denn wir haben Demokratie. Man kann also nichts einwenden gegen Unsinniges, Unwirtschaftliches, unnötig Kompliziertes, über unerwartete Wendungen der Politik oder einfach nur schlechte Politik. Als Gesellschaft sind wir höchst begehrt, ein Vorbild für die Welt, allerdings ein inzwischen ein klein wenig angezweifeltes, siehe die Beliebtheit von Frau Merkel.
Mein Stammtischbeispiel ist die Sommerzeit. Keiner will sie, und doch haben wir sie unverändert seit 1980. Warum bringt eine Demokratie, oder ein demokratisches Gebilde wie »Europa« es nicht zuwege, sie abzuschaffen? 
   Da stimmt doch was nicht.
   Ein seriöses Beispiel: das Völkerrecht. Wieder Wikipedia: »Die Charta der UNO gibt dem Sicherheitsrat die Möglichkeit, gegen ein als ›Bedrohung des Weltfriedens‹ qualifiziertes Verhalten eines Staates zuletzt auch militärische Sanktionen zu verhängen.« Wenn es also wirklich auf Krieg oder Friede ankommt, bestimmt der Sicherheitsrat (mit u.a. Russland als Vetomacht) das »Völkerrecht«. Sowas nimmt dem Schimpfwort »völkerrechtswidrig« die Seriosität. Die »Verteidigung Deutschlands am Hindukusch« (2004) ist rechtens, der Entschuss dazu kam demokratisch zustande, so wie das Liefern von Waffen in Krisengebiete, das im September 2014 durch den Bundestag marschiete (Beispieldiskussion). Vorher hatte es das nicht gegeben.
   Ich hab’ länger darüber nachgedacht, warum unsere Demokratie nicht demokratisch ist. Es liegt am Maß »demokratischer« Indirektheit. Eine sehr indirekte Demokratie hört auf repräsentativ zu sein, selbst beim besten Willen der Politiker und Lobbyisten. Dann ist sie nur mehr formal demokratisch. Das ist bei uns seit vielen Jahren der Fall, und wird es immer mehr. Oben die Politik, unten ungefragt das Volk.
   Wenn unsere Oberen wichtige (und unwichtige) Entscheidungen ruck-zuck ohne Befragung »alternativlos« durchsetzen, so brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn ihnen die (unterforderten) Wähler weglaufen und populistische Parteien Aufwind haben. Schlussbeispiel Visafreiheit: Da wissen wir nicht einmal, wer was entscheidet – Brüssel oder Berlin oder, sagen wir, Bayern? Dass nicht nur Reisefreiheit sondern auch Niederlassungsfreiheit unabdingbar zu »Europa« gehört, das wissen wir auch erst seit dem Brexit. Warum?

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NZZ-Artikel »Starrsinn im Kanzleramt«

PS. Meldung 9.9.16. »Türkei schafft Winterzeit ab« – sowas gelingt nur einer, pardon, Diktatur. Der Sonnenzeit-entsprechende 45. Längengrad liegt östlich der Türkei in Armenien. Wie bei uns wird, statt wie früher früher aufzustehen, einfach die Zeit verschoben, eine Art »Zeitinflation«.
Karte aus der Wikipedia
In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Ceta (und TTIP) auch ohne Einzelabstimmungen hätte »durchgebracht« werden können, wenn das Abkommen nicht als als »gemischtes Abkommen«, sondern als reines  EU-Abkommen eingestuft worden wäre. Dann wäre uns »Wallonien« als Widersacher erspart geblieben: Siehe am 10.6.2016 die Zeit »EU könnte Ceta ohne Parlamente verabschieden« und die FAZ. Diese Tatsache wird von den Medien selten berichtet. Dass die EU einfach nur schlecht Politik macht, hochmütig, kreidet man ihr ungern an, vielleicht um es sich als Journalist nicht mit ihr zu verderben. Ich meine auch: ein EU-Konstruktionsfehler, nicht einmal schlechter Wille oder »Un-Demokratie«. 
   Wie sagte der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, nach der Einigung in Belgien: »Ich bin nicht der Meinung, dass wir hier ein Stück gehobener Staatskunst vorgelegt haben« – die Beschönigung des Jahres, meint Hendrik Kafsack in der FAZ.

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