Die Freiheit bedroht sieht Reiner Kunze durch die Ignoranz der Politiker. Er meint mehr als nur Ignoranz, und er meint mehr als Freiheit: Die Demokratie ist gefährdet. »Es kommt nicht darauf an, den Freiheitsgedanken attraktiver zu machen, sondern es käme – ich bediene mich bewußt des Konjunktivs – darauf an, in der freiheitlichen Demokratie so zu leben und, was das politische, ökonomische und im weitesten Sinne intellektuelle Establishment betrifft, die Demokratie so vorzuleben, daß die Bürger auf den Gedanken kommen, es gibt im Zusammenleben der Menschen Gleichwertiges, aber nichts Wertvolleres als die Freiheit.« – der Mann spricht mir (bissl kompliziert) aus der Seele. Dass er seine Politikerschelte an der Rechtschreibreform festmacht – der Artikel in der Welt am Sonntag vom 1. März 2009 heißt »Was die Rechtschreibreform mit der Freiheit zu tun hat« – finde ich persönlich natürlich weniger überzeugend, aber das macht nichts. Jeder von uns stößt sich anderswo an diesem Staat, der ihn ignoriert, gegen die Wand laufen lässt. Bei Reiner Kunze war es vielleicht die anscheinend undemokratisch durchgezogene Rechtschreibreform – und wenn das Volk das Gefühl hat, es sei bei einem Entschluss undemokratisch zugegangen, so war er undemokratisch! –, bei einem anderen ist es die übertriebene Besteuerung, bei wieder einem anderen die ungerechte Verteilung oder offensichtliche Geldverschwendung oder Vernachlässigung öffentlichen Gutes. Immer stehen wir dann nicht mehr hinter der Demokratie sondern wünschen uns einen vermeintlich starken Staat, der das dann anders gerichtet hätte, richtet, oder richten soll. Freiheit, Demokratie, die müssen notfalls weichen – so wird aus Demokratieverdruss argumentiert.
Ich meine nur, dass es nicht mangelnde menschliche Qualitäten von Politikern sind – Kunze spricht von »Machtarroganz« –, sondern der Filz des Systems, die Lobbykratie, die vielen Regierungsschichten (Gemeinde, Kreis, Land, Staat, Europa, …) durch die keiner von ihnen durchsteigt. Die Vorstellung, der Staat müsse besser, moralischer, vorsorglicher usw. sein als irgendwer sonst, stammt aus einer Staatsvorstellung, die vielleicht unbewusst von Kunze erfahren wurde, die aber auch bei reinen »Westlern« grassiert. Naiv. Die Freiheit ist ja gerade deshalb nötig, weil der Staat nicht besser, ordentlicher, väterlicher usw. ist. Ein System, das gute Politiker braucht, ist schon verurteilt – zu Unfreiheit.
Sehr gefallen haben mir Kunzes belegte kleine Beispiele von DDR-Willkür, nachzulesen in seinem »Gespräch über die [Reiner-und-Elisabeth-Kunze-]Stiftung«.
Wie gerne hätte ich noch ein Bild der Papiertüte aus Westberlin, auf der der Slogan »Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch« mit einer stilisierten Deutschlandkarte mit viel Grün und ein paar blauen Strichen illustriert war. Wegen dieser Tüte – das erfuhren wir aber erst ganz am Ende! – wurden meine Freundin und ich beim Betreten der Hauptstadt der DDR getrennt hochnotpeinlich eine halbe Stunde lang verhört. Der Zeichner hatte rechts eine blaue Linie zu viel gezogen: die Oder. Ohne dem Gewässer irgendeinen Namen gegeben zu haben signalisierte die Tüte damit einen gesamtdeutschen Anspruch, wurde nach den Verhören eingezogen und uns kostenlos durch eine neutrale ersetzt.
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