2. Oktober 2017

Vorurteil

Vorurteil – sine ira et studio

Jeder hat so seine Vorurteile. 
   Die Alten, weil sie ihre Urteile schon so lange haben, abgespeichert, dass sie festgetrocknet sind wie Farbreste. So wurden zum Beispiel früher Präferenzen bei Wahlen von Vater zu Sohn weitergegeben, und dann weiter. »Schon mein Großvater war für die SPD, liberal, ein Konservativer« undsoweiter.
   Die Jungen, warum haben die Vorurteile? Sie lesen vielleicht Zeitungen, die tüchtig, tüchtig, Nachrichten in Gefühle verpacken, emotionalisieren, skandalisieren – und schon sitzen wieder einmal Vorurteile fest. Empörung lässt sich nicht wegdiskutieren, und wer wollte das schon? Meinungsfreiheit und Denkfaulheit führen da zum selben Vorurteil.
   Überhaupt: Meinungen. Heutzutage muss man Meinung haben, sofort (Man höre die Kitzbühler Hundertstelsekunde)! Meinung zu Kaiser Nero, der Rom abgefackelt hat, zu den Armeniern, die ganz offiziell und demokratisch laut Abstimmung im Bundestag einem ersten Völkermord zum Opfer fielen, und zu Neuerem erst recht. Beliebt ist der Klimawandel als Grund und Ursache, und dafür der Mensch, der böse. Nur der Gute isst vegan.
Ferienlager BDM. Quelle: http://kunstmuseum-hamburg.de/tag/bund-deutscher-maedels/
Ein alter Freund regte sich darüber auf, dass eine stramme alte Dame aus Bayern zuletzt ihre Zeit beim Bund Deutscher Mädels als ihre beste Zeit genannt hatte. Also war sie Nazi. Hat er darüber nachgedacht, dass es tatsächlich ihre beste Zeit, ihre schönste Jugenderinnerung gewesen sein mag – unabhängig von ihrer politischen Meinung, aber angesichts von Krieg, der nachher kam, von einem mühsamen Leben, einem unerfreulichen Ehemann vielleicht, wer weiß? Dass ihr die Ferienlager mit anderen »Mädels« vielleicht unbeschwert Spass gemacht haben und Freude? 
   »Am liebsten mag ich den Kick von Bungee-Springen« – wenn das heute wer sagt, was sagt uns das zu seiner politischen Auffassung? An die FDJ will ich gar nicht denken.
   Wer oder was war überhaupt ein Nazi? »Ein Anhänder des Nationalsozialismus’«, schreibt uns die Wikipedia, was einen konkret nicht viel weiter bringt. Jemand, der Hitler gewählt hat? Der Hitler die Treue geschworen hat? Der nach dem Krieg immer noch nichts über »den Führer« hat kommen lassen? Einer oder eine, die die Verbrechen der Nazis gutgeheißen, oder nur gewußt, oder erahnt hat? Und dann keinen Widerstand leistete? Den Nazi als scharfen Begriff gibt’s nicht, was ihn nicht besser macht, keine Ausrede sein darf. Aber:
   Haben sich nur SED-Anhänger nicht gegen den Schießbefehl an der Mauer aufgelehnt? Das würde heute noch keiner fragen.
   Die Welt ist nicht so einfach. Nicht schwarzweiß, schon gar nicht braunschwarz.
   Ich will gewiss niemanden entschuldigen, verteidigen, verdammen oder aburteilen. Ich will, dass keiner urteilt über des anderen Splitter – oder von mir aus auch Balken – im Aug’. Wer sind wir, dass wir urteilen dürfen? Selbst Gott lässt sich da Zeit bis zum Jüngsten Tag. – Lieber ist mir kein Urteil, kein Lob und keine Verdammung, nur vielleicht Wissen, Wissen um die Verhältnisse, um die Umstände, den einzelnen Fall. Ganz vorsichtig. Sine ira et studio. 

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