25. Oktober 2016

Dorothea in der Schule des Lebens


Klassenarbeit 1.12.1910
Die Bedeutung des Pfarrers für den Gang der Handlung in „Hermann und Dorothea“.



23. 12. 1910
Die bedeutendste Persönlichkeit in Hermann und Dorothea ist neben Hermann Dorothea. [Mit roter Schlangenlinie versehen.] Sie verdient unsere uneingeschränkte Hochachtung, denn ihren großen heldenmütigen [rot gestrichelt unterstrichen] Charakter hat sie sich in hartem Kampfe mit dem Leben, in der Schule der Leiden erworben. Die Ausführung soll zeigen, dass manch [25 oder 27, 39] herbes Leid ihren Lebensweg kreuzte, dass sie aber auch [rot durchgestrichen] glänzend und bewährt aus den Prüfungen hervorging.


Der frühe Tod der Eltern schreckte sie schon bald aus den sorglosen Jugendträumen empor. Ein alter Verwandter nahm die Waise liebreich auf, bemüht, sie den Verlust der Ihrigen durch treue Liebe vergessen zu machen. Wenn ihm das auch nicht vollständig gelang, so fühlte sie doch, was dieser ihr seit dem Tode der Eltern geworden, sie lernte ihn wie einen Vater lieben und suchte ihn sein Alter recht angenehm zu machen. Aber die ruhigen Tage, die sie in seinem stillen Heim erlebte, waren bald vorbei. Die Revolution kam und mit ihr Schrecken und Verwüstung. Das Besitztum des alten Verwandten fiel zum größten Teil in die Hände der Feinde. Das warf den Gries aufs Krankenlager. Dorothea pflegte ihn unermüdlich, bis sein Auge sich sanft zum ewigen Schlummer schloss.


Zum [28 od. 29, 38] zweiten Male stand sie einsam, verwaist in der weiten Welt, das um so mehr, als ihr auch der geliebte Bräutigam entrissen ward. Ein edler Jüngling, war er, von hoher Begeisterung für die Freiheit getrieben, nach Paris gegangen, aber dort als ein Opfer für die gute Sache gestorben. Aber noch hatte sie den Becher der Leiden nicht bis zur Neige getrunken. Bisher war es ihr ein Trost gewesen, wenigstens noch im Besitze der Heimat zu sein. Auch dieser wurde ihr genommen, denn als die französischen Truppen verwüstend und plündernd das Land durchzogen, musste sie mit den Verwandten, bei denen sie Zuflucht gefunden, fliehen, um im fremden Lande eine neue Heimat zu finden.
   So hat Dorothea die böse Seite des Lebens voll und ganz kennen gelernt. Mancher Mann wäre unter solch harten Schicksalsschlägen zusammengebrochen, Glauben und Vertrauen auf eine bessere Zukunft für [30 o. 31] immer begrabend.


Wie aber bewährt sich Dorothea in der Schule des Lebens? Schöner und edler geht sie aus allen Prüfungen hervor. Mit hingebender Geduld trägt sie die Leiden, die in so mannigfaltiger Weise über sie hereinbrachen, mit männlichem Starkmut verteidigt sie ihre Ehre und die Unschuld der Kinder, die ihrer Sorge anvertraut sind, gegen eindringendes Raubgesindel. Ihr Herz ist nicht mit Bitterkeit erfüllt worden. Sie hat ihren heiteren, kindlichen Sinn bewahrt und sich Gottvertrauen erworben. Das Leben ist ihr ein guter Lehrmeister gewesen, in der Schule der Leiden hat sie gelernt, sich selbst zu vergessen und für andere zu entsagen. Hätte sie sonst sich so selbstlos der Pflege der Wöchnerin hingegeben, da ihr doch die Gefahr drohte, der rohen Willkür der Feinde anheimzufallen? Wohltuende Liebe leitet wie hier all ihr Handeln. Dadurch hat sie sich die Zuneigung aller gewonnen, die sie kennen. Zu diesen Tugenden des Herzens gesellt sich ein [32 o. 36] durch die Leiden gereifter und geschärfter Verstand.  








„Ihr Auge blickte heller Verstand und gebot, verständig zu werden.“ Früh verwaist und daher vielfach auf sich selbst angewiesen, ist sie selbständig in ihrem Tun geworden. Trotzdem vermag sie sich leicht dem Willen eines anderen unterzuordnen. Daher erschreckt sie der Gedanke nicht, bei den Eltern Hermanns Magd zu werden. Sie hat viel Menschenkenntnis erworben und vermag sich so jedem, selbst der Eigenart des Wirtes anzupassen. Dadurch gewinnt sie nicht nur die Liebe der Mutter, deren unentbehrliche Stütze sie wird, sondern auch die des Vaters, der in ihr eine Schwiegertochter findet, wie sie seinen Wünschen entspricht.

Die Ausführung hat gezeigt, dass Dorothea viel Bitters in ihrem Leben erfahren, dass sie aber aus der Schule der Leiden um so herrlicher hervorging [rot gestrichelt unterstrichen], den Charakter geläutert und gestärkt. Wir dürfen darum hoffen, sie als die geliebte Gattin ihres Hermann, als die [34 o. 35] Freude und den Stolz ihrer Schwiegereltern entschädigt zu sehen für alles Leid, das ihr die Vergangenheit gebracht.





Sehr gut.

Abschrift aus einem Schulheft, das Frau B. freundlicherweise zur 150-Jahr-Feier der Bonner Münsterschule ausgelegt hatte, siehe http://blogabissl.blogspot.com/#3990505321887520438. Die Rechtschreibung wurde modernisiert. 
   Die Kinder haben damals zwei Schriften gelernt, beide mit derselben Stahlfeder zu schreiben, beide mit überlangen Ober- und Unterlängen, deutsche (wie hier) und lateinische für Fremdsprachen, Zitate und den Familiennamen. Man beachte die Präzision der Schrift und des Schriftsatzes (Einzug von Kapiteln, nicht aber zu Beginn des Textes). Die ganz wenigen Korrekturen beziehen sich auf den Stil, etwa wiederholte »auch« oder platte Aussagen. – Trotzdem gab’s insgesamt nur das Prädikat »gut«.
   Siehe bei Fritz@Joern.De Bilder\200804\Schulfeier (24).jpg, (25) oder (40), usw.,
Bei Seitenwechsel [Hinweis im Text in eckigen Klammern]. Für Abbildungen die optisch korrigierten Versionen _pt nehmen. Volltext auf meinem HermannundDorothea.doc.


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