15. Januar 2015

Moral

»Auch hat man aufgehört, in der Schule Moral zu unterrichten«, sagt Cécile Wajsbrot in einem sehr lesenswerten Interview »Frankreich ohne Idee und Kontur«. Ich füge hinzu: Auch die Kirche hat aufgehört, eine »moralische Anstalt« zu sein.
   Wie weggeblasen ist die »seelische Unterdrückung« durch Moral, wie ich sie noch in den Fünfzigerjahren in der Schule (beziehungsweise im Internat) leidvoll erlebt habe (und nicht hätte misssen wollen). Vorschriften wie Sonntagspflicht, Keuschheit (was ist das?), zum Beichten Gehen (samt gebotener Gewissenserforschung!) – gibt’s alles nicht mehr im Angesicht eines bedingungslos alle Menschen liebenden Gottes, dem Licht in der Finsternis (die eh keiner empfindet), dem Verkünder ewigen Heils (»Wellnesschristentum«).
   Wie lange wir noch ohne Moralauffrischung zivilisiert leben werden, frage ich mich. Der Angriff in Paris war kein Angriff auf unsere Freiheit der Meinungsäußerung, auf Karikaturisten oder Koscher-Essende, er war nicht einmal islamisch: Er war einfach zutiefst unmoralisch, Mord. Wir müssen Mord in jeglicher Form und Funktion, mit oder ohne »guten« Grund, wieder tabuisieren, wieder total ächten.
Bildnis Carla, gesehen durch die drei Spiegel im Eingang
Eitelkeit?                                                                    Foto Jörn
Schon der Zorn, den Abdelkader Benali in einem ebenso lesenswerten Artikel »Als Muslim in einer säkularen Welt« be­schreibt, ist nach meiner alten Auffassung Sünde. Wir leben »in einer Gesellschaft, die längst aufgehört hat, sich mit solchen großen Fragen auseinanderzusetzen«, rügt Benali weiter.
   Ein Wiederbesinnen auf Werte tut not, nicht auf Freiheit, nicht auf Gleichheit, nicht auf Einigkeit oder Recht, große Worte also, die zu bloßen Wörtern verkommen sind, sondern auf Details: Wann darf denn gemordet werden? Von wem? Bom­bar­dier­ungen? Drohnen? Gehen uns Boots­flücht­linge nichts an, weil sie nicht über die Ostsee kommen?
   Ist Zurückhaltung in »Gedanken, Worten und Werken« (schon seit Zarathustra, 1000 v. Chr.) an­ge­bracht, oder nur in »Worten und Werken«, oder allein in »Werken«? Darf man alles denken? Wir damals durften nicht, was sogar zu einem Verbot von Illustrierten führte; Playboys gab’s eh noch keine. Wer erinnert sich noch an die »Gewalt gegen Sachen«-Diskussion zur Anti-Springer-Zeit?
   Eitelkeit, ist die zwecks Förderung der Mode­in­dustrie gut oder schlecht? Und so weiter.
   Wie wär’s also wirklich mit einer Nation-weiten Diskussion um Werte en détail? – (Früher galten zu häufige Blicke in den Spiegel schon als eitel, heute findet man auf der Suche nach dem Thema bloß ein Wochenmagazin. Dort schön zu lesen: »Leben als junger Amish«.)

Link zu diesem Eintrag: http://blogabissl.blogspot.com/2015/01/moral.html

  Sammlung interessanter Artikel zum Thema*)
• Wie oben zitiert, das Interview mit Cécile Wajsbrot
  über Frankreich »Ohne Idee und Kontur«, 15. 1. 2015
• und Abdelkader Benali, »Als Muslim in einer säkularen Welt«, Zweifel und Zorn, 15. 1. 2015
• Eric Gujer, Leiter des NZZ-Auslandressorts, »Gewalt und Religion«, 17. 1. 2015,
   Zitat: »Doch das agnostisch gewordene Europa reibt sich ratlos an jener Religion, deren praktizierende Gläubige sie konservativ bis dogmatisch und manchmal in extremistischer Weise auslegen. – Um auf diese Herausforderung antworten zu können, muss man allerdings eine Vorstellung von seinem Gemeinwesen besitzen. Und genau daran hapert es in der Spassgesellschaft.«
• Necla Kelek, »Gewalt und Unterdrückung im Islam. Eine Religion der Beliebigkeit«, 20. 9. 2014
Necla Kelek. Sie meint: »Wer den Koran wörtlich nimmt, ihn ahistorisch liest und auslegt, öffnet die Büchse der Pandora.«.
   Mir ist’s auch so ergangen, nachdem ich am Bonner Friedensplatz einen Koran geschenkt bekommen habe. Gelesen hab’ ich bis zum Ende der Sure zwei, der längsten, und das Buch dann mit Schrecken weggelegt. Ein Regelwerk für (Gott bezw. Allah und) die Welt, gnadenlos. Will’s mir dennoch noch einmal ansehen. Aber ohne viel, viel Auslegung unerträglich.
• Interessante Texte aus dem NZZ-Folio (Monatsheft) »Atheismus«, Dezember 2014,
  übrigens mit schönen Fotos umgewandelter Kirchen von Andrea di Martino.
· Mathias Plüss, »Der Barmherzige Atheist«. Plüss zitiert eine hundert Jahre alte Weisheit von Ambrose Bierce: »Die Religion erzeugt keinen besseren Menschen. Aber sie macht ihn erfolgreich.«
· Vom Chefredaktor des Folio, Reto U. Schneider, »Mission Impossible. Von einem, der auszog, früheren Wegbegleitern seinen Atheismus zu gestehen.« Ein klasse Artikel – offen, ehrlich, gut zu lesen. Zitat: »Der eingreifende Gott gehört für mich zu den besonders verschrobenen Ideen der Religionen. … Was mir absurd scheint und wofür ich keine Hinweise sehe, ist, dass sich diese Macht um mich kümmert, dass ich persönlich mit ihr in Beziehung treten kann, dass ich ihr nicht einfach egal bin.«  

*) Direkter Link zur Artikelsammlung http://blogabissl.blogspot.com/2015/01/moral.html#Artikel
Direkter Link zum Atheismus im Folio http://blogabissl.blogspot.com/2015/01/moral.html#Atheismus

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