15. März 2007

Friedhofssitten

An einem schönen Vorfrühlingstag bin ich über den riesigen Dortmunder Hauptfriedhof gewandert – mit 135 Hektar angeblich der größte Dortmunder Park. Breite Wege, alte Bäume, Friedhofsgärtner mit Leitern bei der Arbeit in einem Baum oder beim Rechen und Pflanzen und Gießen. Eine Bogenbrücke überspannt einen längst ausgetrockneten – oder künstlichen? – Wasserlauf . Ein englischer Garten fast, wären da nicht all die Grabstätten.
Ich kenne Friedhöfe hauptsächlich aus den Bergen, herum um Kirche oder Kapelle, mit kleinen, bescheidenen Gräbern. Heimelig richten sie die Gedanken selbst eines Fremden auf ihre Verstorbenen, die da mit Name und Bild vorgestellt werden. Dieser war Bauer, dann ist meist der Hofname mit angegeben, jener Lehrer oder Familienmutter, andere Beamten, Pfarrer. Ein ganzes Dorf tut sich vor einem auf, die Toten, die da ruhen, werden lebendig in den Gedanken, angestoßen von den an Grabstein oder schmiedeeisernem Kreuz mitgeteilten Einzelheiten – als gäben die Gräber Stichworte für den Phantasieeinsatz.

Ganz anders hier in Dortmund. Haupt- und Nebenstraßen sind begrenzt von mehr oder weniger pompösen Grabstätten. Riesige Steine, Menhire fast, halten unter Grund, was daraus nimmer auferstehen mag. Meist geht es wohl um Familien, anders sind die ausladenden Flächen nicht zu erklären. Und meist steht nur ein einziger Name auf dem Stein, in würdevollen Versalien: der Stammesname. Aus dem Alter der Schrifttypen mag man die Sterbepoche des hingeschiedenen Grabbegründers abschätzen, Bronze und Bauhaus scheinen dominierend (Der Friedhof wurde 1921 eröffnet.) Gerne sind die Steine asymmetrisch abgerundet, Granit, grau, Handschmeichler für den großen Geist, irgendeinem riesigen Gott zum Spielen. Da steht dann LÜKE, aufrecht, gut gesichert gegen das Umfallen, oder HARNACK, auf einer Bodenplatte. Ein MICHEL leistete mehr, bekam ein mir unbekanntes Handwerkszeichen, eine Art Löschwiege mit Stiel. Ungewollt komisch mag ein einsames SCHADE sein, auf Marmor, mahnend ein DUDA auf einem Wackerstein. Pompös bleibt es allemal. Hier ruhen nicht Einzelne in Gott, die man kannte und derer man sich weiter zu erinnern sucht, hier stoppte ein Mensch, vielleicht ein Magnat, eine Stammesmutter für immer und ewig. Das ist das Ende. SCHLOTTMANN steht da, mit Kreuz im Stein, HILLEBRAND bekam ein Alpha und ein Omega. Die Symbolik, wenn überhaupt, beschränkt sich auf steinmetzfreundliche Kreuze, eine Taube oder eben diese griechische Start- und Zielbezeichnung. Der Friedhof ist städtisch, da mögen viele die christliche Frömmigkeit aufgeklärt hinter sich gelassen haben, vor allem in Alter und Tod. Lieber nichts, als Umstrittenes, das werden sich die Erben gesagt haben.

Auf einem aufgelassenen Gräberfeld liegt einsam ein alter, verlassener Grabstein, wie hingeworfen schräg mitten auf der bemoosten Wiese vor einer riesigen Fichte. Ich trete näher heran, schaue nach dem verwitterten Datum: 18. 8. 1880 bis 4. 5. 1942. »Hier ruht in Gott mein lieber Mann unser guter Vater Anton Wippich«. Ja, der ruht noch, ein Einzelner, in Gott, blickt hinauf durch die Fichte in den blauen Himmel, oder von dort herunter auf mich Unvollendeten.

Wieder am Ausgang komme ich mit einem Mann im Trainingsanzug ins Gespräch, weil ich das frisch bepflanzte Grab seiner Frau fotografiert habe. Es ist das einzige Grab mit einem Bild, einem ovalen, so wie wir es in den Bergen haben. Ein riesiges Grab für eine Frau, voller frischer Blumen, und – mit Bild. Er erzählt mir, hier an der Hauptstraße seinen die Bestimmungen besonders genau, die Größe der Steine, ihre Art – es muss Natur sein, darf nicht geschliffen wirken – und freilich: Bilder sind ganz verboten. Sonst nimmt einem das städtische Bauamt das Grab nicht ab. Er aber stamme aus Bayern. So hat er sich erst einmal zur Zulassung einen Grabstein mit kleinem Kreuz machen lassen. Erst hinterher hat er selbst das Kreuz gegen ein Porzellanfoto getauscht. Nun müsse ihn die Stadt verklagen, wenn sie das Foto wegbekommen möchte. Das würde sie wohl nicht tun. Gewalt darf sie nicht anweden.

Nachdenklich fahre ich weg. Gedanken an die harte, religionslose Welt, an die großen, grauen, gnadenlosen Steine, ewig, nie verwelkend, nie rostend, und freue mich über den kleinen Bayer, der ihnen allen ein Schnippchen geschlagen hat für seine sel. Frau.

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